"Die Opposition war immer da"
Zeynep Tufekci, Fellow am Berkman Center, über die Art, wie soziale Netzwerke politische Debatten verändern und Revolutionen befördern können.
- Dr. Wolfgang Stieler
Zeynep Tufekci, Fellow am Berkman Center, über die Art, wie soziale Netzwerke politische Debatten verändern und Revolutionen befördern können.
Die Sozialwissenschaftlerin Zeynep Tufekci forscht zur Wechselwirkung zwischen Technologie, Kultur, Gesellschaft und Politik. Sie ist Junior-Professorin an der University of North Carolina und Fellow am Berkman Center for Internet and Society der Harvard University.
Technology Review: Frau Tufekci, wie kann ein soziales Netzwerk wie Facebook eine Revolution hervorrufen?
Zeynep Tufekci: Es geht nicht allein um soziale Netzwerke. Es gibt in diesen Auseinandersetzungen ein ganzes Medien-Ökosystem, das auf drei Säulen beruht: Satelliten-Sender wie Al Jazeera, die weite Verbreitung von Mobiltelefonen mit Kameras und soziale Netze. Wenn Sie all diese Dinge zusammenwerfen, können Sie die Infrastruktur einer Gesellschaft dramatisch verändern. Und wenn Sie ein Diktator sind, der darauf angewiesen ist, die Bevölkerung zu isolieren und zu zensieren, haben Sie ein großes, großes Problem.
Mein Argument ist also: Diese neuen, technischen Möglichkeiten erzeugen keine Opposition. Die Opposition war immer da. Aber sie haben den Unzufriedenen ermöglicht, sich auf eine neue Art und Weise zu organisieren.
TR: Warum war denn das Regime, zum Beispiel in Ägypten, nicht in der Lage, diese neue Form der Kommunikation zu kontrollieren?
Tufekci: Zwei Punkte – zum Einen war das Mubarak-Regime nicht sehr schlau, was diese Dinge angeht. Ein Aktivist, den ich interviewt habe, hat von dem Tag erzählt, als Mubarak Schläger mit Kamelen auf den Tahir-Platz geschickt hat. "Da standen wir", hat er erzählt, "und versuchten Fotos und Videos von dem, was auf dem Platz passiert über Satellitentelefon ins Internet hochzuladen. Und dieser Kerl schickt Kamele? Das war nicht mal 20., das war 19. Jahrhundert." Ich denke, das Mubarak-Regime war wirklich hinter der Zeit zurück. Andere Regierungen werden da intelligenter vorgehen.
Aber, auch wenn Sie sehr, sehr schlau sind, werden Sie Probleme haben, diese Dinge in den Griff zu kriegen. Denn in einem Großteil der Zeit, in der die Leute online sind, beschäftigen sie sich nicht mit Politik – sie tauschen Bilder, bleiben miteinander in Verbindung und wickeln Geschäfte ab. Wenn Sie das zensieren, haben Sie mehr Schaden, als Nutzen.
Nehmen Sie China. Ein Land wie China hat eine halbe Milliarde Internet-Nutzer. Es gibt dort einen sehr populären Microblogging-Dienst, so wie Twitter. Der hat 60 Millionen User. Die chinesische Regierung versucht, diesen Dienst zu zensieren, aber das ist sehr, sehr schwer. Wenn Sie ein Stichwort blockieren, nehmen die Leute mit ein anderes.
Dabei genießt die chinesische Regierung eine weit verbreitete Akzeptanz in der Bevölkerung, weil sie wirtschaftlich sehr erfolgreich war. Es gab dort 300-400 Millionen Menschen, die von umgerechnet weniger als einem Dollar pro Tag gelebt haben. Dort hat ein erstaunlicher wirtschaftlicher Umbau stattgefunden. Aber wenn die Regierung wirtschaftlich versagt, dann wird es selbst der chinesische Staat sehr schwer haben, die Dinge unter Kontrolle zu halten. Natürlich kann man das chinesische Internet abschalten. Aber damit schaltet man auch die Wirtschaft ab.
TR: Was bedeutet das?
Tufekci: Ich denke, das Zeitalter der dauerhaften, autoritären Regierungen, die sich jahrzehntelang halten, indem sie die Menschen isolieren und zensieren, nähert sich seinem Ende. Das wird nicht dieses oder nächstes Jahr passieren, aber ich denke, noch in diesem Jahrzehnt. Eine Menge Staaten werden vor die Wahl gestellt, demokratischer zu werden, oder sich in ein zweites Nordkorea oder Burma zu verwandeln – sich also komplett abzuschotten. Das wird auch die chinesische Politik beeinflussen.
TR: Wir befinden uns also an einer historischen Wende?
Tufekci: Ja, das glaube ich. Ich sage nicht, dass es keine technischen Möglichkeiten gibt, die Menschen zu befrieden. Aber ich glaube, dass dieses Modell des diktatorischen Regimes ein Auslaufmodell ist.
TR: Wir werden noch weitere politische Umbrüche in Nordafrika sehen?
Tufekci: Wenn ich dort an der Regierung wäre, würde ich keine Pläne machen, die über die nächsten zehn Jahre hinausreichen.
TR: Gilt das auch für Saudi Arabien? Immerhin ein wesentlicher Verbündeter des Westens im Nahen Osten?
Tufekci: Wahrscheinlich wird das nicht für die wenigen, reichen Ölstaaten gelten. Staaten wie Quatar oder Saudi-Arabien könnten eine Ausnahme bleiben. In Staaten wie Bahrain, wo es ethnische Spannungen gibt, könnten die Dinge dagegen sehr kompliziert werden.
Das ist übrigens ein sehr interessanter Aspekt: Diese Entwicklung, die ich angesprochen habe, wird nicht automatisch zu mehr Demokratie führen – sie wird zu mehr politischer Beteiligung führen, aber das bedeutet nicht automatisch, dass die Zustände demokratischer werden. Und das Beispiel Ägypten zeigt auch: Einen Diktator zu stürzen ist eine Sache. Eine funktionierende Demokratie aufzubauen, ist ein ganz anderes Problem. Technologie kann helfen, dieses Problem zu lösen. Aber es kann die Dinge auch komplizierter machen.
TR: Sie haben von Zensur gesprochen. Was ist mit Manipulation? Wenn ich ein Diktator wäre, wäre es dann viel schlauer, falsche Informationen zu streuen?
Tufekci: Offensichtlich werden wir mehr davon sehen. Im Westen wird das mehr von Unternehmen gemacht, als von Regierungen. Die produzieren das, was wir Astroturfing nennen: Gefälschte Bürgerinitiativen zum Beispiel, die sich für saubere Luft einsetzen und von Kohle-Unternehmen bezahlt werden.
Aber auf der anderen Seite gibt es bessere Möglichkeiten, Netzwerke des Vertrauens aufzubauen: Wenn die Information vom Freund eines Freundes kommt, ist sie vielleicht vertrauenswürdiger. Dienste wie Google+ und Facebook unterstützen diese Möglichkeit – man muss sich allerdings auch der Mühe unterziehen, solche Netzwerke aufzubauen. Früher saßen Sie vor dem Fernseher und konnten sagen: Ich habe keine Ahnung, ob die mich anlügen oder nicht. Jetzt gibt es diese enorme Verlagerung von Verantwortung hin zu jedem Einzelnen.
Ich persönlich fühle mich hunderttausendmal besser informiert als früher, weil ich Kontakte in sozialen Netzwerken habe. Nehmen Sie das Attentat in Norwegen: Als das passiert ist, habe ich sofort CNN angeschaltet – es ist Teil meines Berufes, zu analysieren, was diese Sender machen. Gleichzeitig hatte ich meinen Laptop neben mir stehen und Twitter offen. Ich kenne eine Kollegin in Norwegen, die soziale Netzwerke untersucht. Und während die Nachrichtensendung lief, twitterte die Kollegin parallel, was die norwegische Polizei dort im Fernsehen bekannt gegeben hatte: Wir haben den Attentäter verhaftet, es ist ein weißer, norwegischer Bürger und so weiter – während CNN immer noch verbreitete, das müsse Al Quaida gewesen sein. Stunden später meldete auch CNN, der Täter sei gefasst, und es sei ein weißer Norweger – aber vielleicht sei das ja die neue Ausprägung von Al Quaida. Das war echt verrückt. Die hatten ihre Geschichte im Kopf und an der haben sie immer weiter festgehalten.
Das Problem ist: Ich habe diese Kontakte. Ich habe studiert und arbeite an einer Universität – das heißt, ich hatte die Möglichkeit, die Fähigkeiten zu entwickeln, mit diesen Medien umzugehen. Aber man kann das nicht von jedem erwarten. Es ist viel einfacher, den Fernseher anzuschalten. Die Frage ist also: Üben wir, die wir die Kontakte haben, genug Druck auf die traditionellen Medien aus? Oder ignorieren sie uns einfach? Ich weiß es wirklich nicht.
Diesen Effekt haben Sie oft, wenn es um Technologie geht: Die Frage, ob Technologie gut oder schlecht ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Meistens gibt es mehrere Effekte, die gegenläufig sind.
TR: Glauben Sie, dass der Trend zu mehr Beteiligung auch westliche Gesellschaften verändern wird?
Tufekci: Gute Frage. Ich glaube, das passiert bereits. Nehmen Sie zum Beispiel die Kampagnen gegen Impfungen. Um es klar zu sagen, diese Kampagnen sind ignorant und gefährlich. Sie setzen auf dem vorhandenen Misstrauen der Bevölkerung gegen "die da oben" auf – das ja durchaus berechtig sein kann, natürlich belügt uns die Regierung manchmal – aber in diesem Fall ist es falsch, misstrauisch zu sein. Diese Kampagnen sind nicht totzukriegen – und zwar vor allem wegen sozialer Netze.
Dort finden die Leute, die solche Kampagnen pushen, Gleichgesinnte. Wenn es die neuen, sozialen Medien nicht gäbe, würden sie sich vielleicht isoliert fühlen, und sich fragen, ob sie falsch liegen. Aber im Internet kann man leicht Leute finden, die die eigenen Vorurteile bestätigen. Kennen Sie das Buch von Clay Shirky "Here comes everybody"? Als ich den Titel gelesen habe, war mein erster Gedanke: Ok, heißt dass, ich sollte ganz schnell rennen? Also, diese Entwicklung hat ihre Vorteile und Nachteile. Es geht nicht immer darum, eine nicht legitime Autorität herauszufordern. Manchmal tun sich auch einfach nur ein Haufen Ignoranten zusammen.
TR: Es gibt Leute, die sagen, eine Online-Demokratie würde nicht funktionieren, weil der schnelle und intensive Feedback das gesamte System instabil machen würde. Was denken Sie darüber?
Tufekci: Nun, sehen Sie sich an, was das Team von Barack Obama gemacht hat. Die haben über change.gov versucht, die Menschen stärker einzubinden. Also haben Sie gesagt: Schreibt uns, welche Probleme wir angehen sollten – was euch am wichtigsten ist. Das Resultat: Thema Nummer 1 war die Legalisierung von Marihuana. Interessiert das die meisten Amerikaner? Natürlich nicht. Insgesamt haben sich aber nur wenige Menschen an dieser Aktion beteiligt, und die Fraktion der Marihuana-Freunde war in der Lage, ihre Anhänger schnell zu mobilisieren.
Zur Zeit wird die Politik von Geld dominiert. Das wird nicht verschwinden, wenn wir direkte Online-Bürgerbeteiligungen einführen. Aber man muss dann noch mehr Dinge berücksichtigen. Mein Argument ist also: Mehr Beteiligung – und vor allem Information – wäre großartig. Aber einfach ist das alles auf gar keinen Fall. (wst)