Missing Link: Sind wir schon da? Autonom oder assistiert fahren
Fehlt nur noch ein bisschen bis zum Zukunftsversprechen Autonomes Fahren? Oder ist die Frage falsch, weil es um viel mehr, ein ganz neues Mobilitätsdenken geht?
Erprobung automatisierter Fahrfunktionen bei ZF, einem der Entwickler Autonomen Fahrens.
(Bild: ZF)
- Timo Daum
"Ich bin hundemüde und etwas angeschickert. Heute sitze ich in meinem Auto mal hinten und der Robo-Assi darf mich nach Hause fahren." Viele Autofahrer und nicht wenige Visionäre wie Elon Musk warten seit mehr als zehn Jahren darauf, dass die Assistenzsysteme im eigenen Auto endlich erwachsen werden und so perfekt funktionieren, dass sie vollständig Autonomes Fahren nach Level 5 ermöglichen. Wir sind doch so dicht dran. Sind wir? Selbst nur ein einziges Prozent, das an der Vollendung fehlt, würde aber völlig ausreichen, den Traum vom Autonomen Auto auf Jahre zu verzögern.
Trotzdem gibt es Robotaxis, die Passagiere ohne Fahrer transportieren und das auch dürfen, selbst die Gesetzeslage in Deutschland lässt das inzwischen zu. Die fahren nicht mal nach Level 5, sondern nur nach Level 4. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?
In diesem ersten von zwei Artikeln geht es um die Probleme auf dem Weg von Assistenzsystemen zum Autonomen Fahren nach Level 5. Der zweite Artikel beleuchtet, warum das fahrerlose Taxi nach Level 4, das eine vollkommen andere Idee verfolgt, so viel schneller zum Zug kommt.
"Ich habe nicht erwartet …"
"Vollständig Autonome Fahrzeuge, die niemanden am Steuer benötigen und überall hinfahren können, wird es für viele, viele Jahrzehnte nicht geben. Vielleicht nie", mutmaßte kürzlich Daniel Sperling, Gründungsdirektor des kalifornischen Institute of Transportation Studies. Ähnlich skeptisch wie der amerikanische Wissenschaftler äußerte sich der Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Siegfried Brockmann: "Von selbstfahrenden Autos in der Stadt sind wir noch weit entfernt", gab er bereits 2015 zu Protokoll, eine Aussage, die er kürzlich bekräftigt hat. "Dass sich eine 85-Jährige ins Auto setzt und von A nach B chauffieren lässt, dieses Szenario ist heute noch genauso weit entfernt wie vor sechs Jahren", ergänzt er.
Aber auch am anderen Ende der Risikobereitschaft-Skala wird auf die Bremse gedrückt. "Ich habe nicht erwartet, dass es so schwer sein würde", meint Elon Musk. Wenn der Daniel Düsentrieb unserer Zeit, der für vollmundige Versprechungen bekannt ist und für den selbst Flüge auf den Mars nicht zu schwör sind, sich derart kleinlaut äußert – müssen wir dann alle Hoffnung fahren lassen, in den nächsten Jahren das Autonome Fahren realisiert zu sehen?
Zumindest steht das Autonome Fahren nicht in Kürze irgendwo zum Download bereit. Es ist wohl eher so wie mit der Kernfusion – von der heißt es auch seit Jahrzehnten, sie komme gleich. Doch sie ist immer noch nicht da.
Wie in schlechter Science-Fiction
Dass man allein über eine ständige Verfeinerung der Assistenzsysteme zwangsläufig zum KI-gesteuerten Level-5-Fahrzeug gelangt, empfinden Kritiker dieser Idee schon immer als schlechte Science-Fiction. Guter Science-Fiction gelingt es, eine plausible, umfassende und kohärente Zukunftsvision zu entwickeln, bei schlechter treffen oft einige futuristische Gadgets oder Ideen auf ein mehr oder weniger unverändertes Umfeld. Da gibt es dann zwar Teleportation, Aliens und Laserkanonen, der Rest der technischen Umwelt ist aber gleichgeblieben. Ganz zu schweigen von gesellschaftlichen Veränderungen: Es wird immer noch gearbeitet, geheiratet und der Rasen hinterm Einfamilienhaus gemäht. Ist es bei der gängigen Vorstellung des Autonomen Fahrens ähnlich?
Der Fahrer heißt jetzt X, sonst ändert sich nix!
In diesem Zukunftsszenario ist das Autonome Fahren auf Stufe 5 und damit eine der größten technischen Herausforderungen der Menschheit – die "Mutter aller KI-Probleme" (Apple-Chef Tim Cook) – vollständig gelöst. Der algorithmische "beste Fahrer der Welt", so Waymos Werbeclaim, kann immer und überall hinfahren. Drumherum aber ist alles beim Alten geblieben: Die Autos selbst sind mehr oder weniger die gleichen, Infrastrukturen und Gesetze haben sich nicht verändert, und auch die Besitzer der Autos gibt es noch, die sich "ans Steuer setzen" und ihren hergebrachten Nutzungsgewohnheiten frönen, wie zur Arbeit, zum Einkaufen und in den Urlaub zu fahren.
Das ist gerade so, als machte sich ein Industrieroboter in einem kleinen Handwerksbetrieb zu schaffen, ohne dass sich sonst etwas geändert hätte. Damit dessen Einsatz hingegen Sinn ergibt, muss der gesamte Betrieb umorganisiert werden, denn jede Erfindung verlangt nach tiefgreifenden Veränderungen der Umgebung, sonst bleibt sie kuriose Insellösung oder scheitert gänzlich.
Denkt man an die umfassenden Veränderungen, die die Durchsetzung des Automobils vor 120 Jahren mit sich brachte, wird klar: regelrechte Umwälzungen in den Infrastrukturen bis hin zu gesetzlichen Regelungen und dem Alltagsverhalten der Menschen, von Carport bis Pendlerpauschale, waren nötig, um dem technischen Artefakt Automobil zu seinem epochalen Durchbruch zu verhelfen. Die Vorstellung, Autos führen demnächst algorithmisch, sonst ändere sich nix – das ist schlechte Science Fiction.
Wir stecken auf Stufe 2+ fest
Und doch ist das der Weg, der insbesondere den Autoherstellern vorschwebt, nämlich die kontinuierliche Weiterentwicklung von Assistenzsystemen. Diese Philosophie inspiriert übrigens auch das Stufenmodell zum Autonomen Fahren in seiner Standarddarstellung.
(Bild: Susann Massutte)
Hier sieht es mit Fortschritten eher mau aus. Die Produkte aus heimischen Landen trauen sich kaum über Level 2 (fortschrittliche Assistenzsysteme) hinaus, selbst im Luxussegment werden Schilder falsch gelesen oder Vollbremsungen für Plastiktüten hingelegt. Jüngstes Beispiel: Volkswagen kündigt als Teil der Vision "New Auto" an, der neue Bulli soll irgendwann autonom fahren. Schaut man genauer hin, wird Level 2+ versprochen – ab 2026.
So auch bei Tesla, die mit ihrem "Autopilot" die Nase vorn haben, jedenfalls was das Testen angeht. Dank der Crowd von Millionen FahrerInnen, die kostenlos Teslas KI trainieren, indem sie Autopilot benutzen kann Tesla immer neue, verbesserte Versionen ausliefern, Stichwort: continuous delivery. So auch beim jüngsten Update vom Juli 2021, in dem jetzt auch innerstädtische Straßen mit Autopilot bewältigt werden können. Aber auch hier wird vor Hoffnungen, die über Stufe 2+ hinausgehen, offiziell von Seiten Teslas in gewohnt lässiger Form gewarnt: "Es wird unbekannte Probleme geben, seien Sie also bitte paranoid".
Kein "Situationsüberblick"
Die Sicherheitsprobleme bei einem kontinuierlichen Übergang vom alleinherrschenden Fahrer über den assistierten Fahrer hin zum obsoleten Fahrer sind vielfältig. Denn die Fahrer überschätzen oft Fahrassistenzsysteme oder tricksen sie gar aus – einige Tesla-Unfälle mit Autopilot sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Im Juni gaben die US-Behörden bekannt, sie hätten 30 Unfälle seit 2016 untersucht, bei denen der "Autopilot" vermutlich eingestellt war, darunter 10 mit tödlichem Ausgang.
Der Unfallforscher Brockmann sieht den aktuellen Entwicklungsstand auf Stufe 2 (fortgeschrittene Assistenzsysteme, aber mit "hands on" und ständiger Aufmerksamkeit des Fahrers) als unproblematisch, ausreichend getestet und etabliert an. Darüber hinaus werde es aber problematisch. Denn die Übergabe der Steuerung vom automatischen System an den Fahrer, der take over request durch die Maschine, sei ein gefährlicher Knackpunkt: "Man kann nicht jemanden zwei Stunden lang völlig von den Fahraufgaben befreien und dann übergeben. Wir haben da erst mit vier Sekunden, dann mit acht getestet im Simulator, da hat er dann den Fuß auf der Bremse und die Hände am Lenkrad, aber der Situationsüberblick ist nicht gewährleistet."
Ironie der Automation
Das Phänomen ist als "Ironie der Automation" auch aus anderen Bereichen bekannt: Je seltener der Mensch in ein System eingreifen muss, desto schlechter wird seine Fähigkeit, dies zu tun, wenn es dann doch mal nötig wird. Denn die Übergabe findet ja genau dann statt, wenn das sonst souveräne System selbst überfordert ist, zum Beispiel bei sich widersprechenden Informationen unterschiedlicher Sensoren. Der KI-Experte Lance Elliot sieht hier ein grundlegendes Dilemma des Ansatzes: Es sei durchaus plausibel, dass der Fahrer oder die Fahrerin ebenso überfordert sei wie das Assistenzsystem selbst. "Dann lieber gleich Level 4", so der Sicherheitsexperte Brockmann (siehe dazu Teil 2).
Das Problem Mensch
Der größte Unsicherheitsfaktor ist und bleibt der Mensch, das kennen Sie auch aus anderen Bereichen Zum Beispiel bei Seilbahnen; das sind weitgehend automatisierte Systeme mit vielfältigen Sicherheitsvorkehrungen, bei denen es selten zu schweren Unfällen kommt. Gute Systeme werden möglichst vollständig automatisiert konzipiert, einen Take over request an einen gelangweilten, zum Nichtstun verdammten Operateur gilt es tunlichst zu vermeiden.
Die sicherste Technik wird jedoch zur Gefahr, wenn Menschen in Sicherheitsmechanismen eingreifen – mal "auf die Schnelle" eine Sicherung überbrücken, wenn keine passende in greifbarer Nähe ist? So auch beim Seilbahnabsturz am Lago Maggiore im Mai, bei dem 15 Personen ums Leben kamen. Weil ein Zugseil riss, die Notbremseinrichtung aber mit Klammern an ihrer Funktion gehindert war, kam es zur Katastrophe.
Das Legacy-Problem
Ein bestehendes System immer weiter aufzubohren und letztlich in ein neues zu verwandeln, ist ungleich schwerer, als from scratch zu designen. Das stellt die Autoindustrie gerade fest, die sich beim Umbau ihrer Unternehmen auf E-Antriebe mit Altlasten herumschlagen muss – im Unterschied zu E-Auto-Startups, die bei null anfangen können. Tesla ist so erfolgreich beim Bau von Elektroautos, weil die Firma ohne Altlasten aus der Verbrenner-Welt das Auto und das Ökosystem mit einer vollständig neuen Belegschaft angehen konnte. In der Softwarebranche ist das Problem ebenfalls bekannt: Erfahrung, Vorversionen, Rückwärtskompatibilität sind meist keine Vorteile, sondern im Gegenteil Hindernisse, und die Legacy-Anwendung der größte Feind guter Software.
Ein Beispiel aus dem Bereich Automotive erläutert die Firma TTTech aus Wien, die sich mit der Realisierung sicherer automatisierter Fahrsysteme beschäftigt. Am Beispiel von Ethernet, dem über 30 Jahre alten Standard für Netzwerk-Kommunikation, erläutern sie, warum dieses im Automotive-Bereich an seine Grenzen gerät: "Als Ethernet entwickelt wurde, waren Anwendungen mit zeitkritischen, deterministischen oder sicherheitsrelevanten Anforderungen nicht auf der Agenda". Auch eine fahrerlose U-Bahn wird von vornherein als solche geplant, mir ist kein Fall bekannt, in dem es einen kontinuierlichen Übergang von einer bemannten U-Bahn zu einer fahrerlosen gegeben hätte.
Trotzdem schon einführen?
Und doch stellt sich die Frage nach der Einführung solcher erweiterten Assistenzsysteme bei allen Unzulänglichkeiten heute schon. Wie lange soll man warten? Bis die Systeme ganz, ganz sicher sind – was heißt das genau? Eins ist klar: Je länger wir warten, desto sicherer werden die Systeme. Aber was ist mit den Verkehrsteilnehmern, die in der Zwischenzeit sterben?
Eine Studie der RAND Corporation aus dem Jahr 2017 ergab, dass je früher hochautomatisierte Fahrzeuge eingesetzt werden, desto mehr Leben werden letztendlich gerettet; auch wenn die nur geringfügig sicherer sind als von Menschen gefahrene Autos. Die Forscher fanden heraus, dass der Einsatz von Automatisierung, die nur 10 Prozent sicherer ist als der durchschnittliche menschliche Fahrer, langfristig mehr Leben retten wird, als zu warten, bis automatisierte Fahrzeuge 75 Prozent oder 90 Prozent besser sind.
Einfach nur genauso sicher oder sicherer als menschliche Fahrer, soweit sind wir heute sicherlich schon. Allein die Tatsache, dass sich autonome Fahrzeuge immer an die Verkehrsregeln halten, käme schon einer Revolution gleich – die fahren wirklich 50 in der 50er-Zone nicht 59. Fragen Sie mal einen Fußgänger oder einen Radfahrer oder auch einen beliebigen Verkehrsteilnehmer, wem er nachts auf der Straße lieber begegnen möchte, einem autonomen Fahrzeug oder einem von einem Menschen gesteuerten…
Den 30 Unfällen mit Teslas Autopilot, die offiziell untersucht werden, stehen tausende Fälle gegenüber, in denen das unvollkommene, im ewigen Beta-Stadium befindliche Assistenzsystem+ schon Unfälle vermieden und sogar Leben gerettet hat.
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Ausblick auf Teil 2
Im zweiten Teil (der am 22.8. erscheint) geht es um das "betreute Autonomes Fahren", eine Variante, die tatsächlich ausgereift zu sein scheint und kurz vor der Markteinführung steht. Gleichzeitig steht mit ihr die Geburt eines neuen Verkehrssystems ins Haus: Fahrerlose Fahrzeuge als Teile einer Flotte, kommerziell betrieben, auf bestimmte Betriebsbereiche beschränkt, von professionellem Personal überwacht.
Das Ganze ist sogar bei uns seit Neuestem erlaubt und gesetzlich geregelt, der Bundespräsident hat das Gesetz zum Autonomen Fahren gerade unterschrieben.
(Bild: jamesteohart/Shutterstock.com)
Autonomes Fahren, die Auswirkungen auf den Personentransport mit Robotaxis, people movern, autonomen Bussen und die notwendigen Techniken und Regularien beschäftigen uns in einer zehnteiligen Serie:
- Teil 1: Fahrerloser Passagiertransport – es geht los!
Im Verkehrsausschuss des Bundestages geht es am Montag, den 3. Mai, um autonome Flotten, woanders gehören Robo-Taxis fast schon zum Alltag. Der Start der Serie zum Thema.
- Teil 2: 2008: Das Projekt "Chauffeur" geht an den Start
Seit nunmehr 14 versucht Google aus der Selbstfahrtechnologie ein funktionierendes Geschäftsmodell zu machen, wir zeichnen die Entwicklung nach.
- Teil 3: Pandemie-Effekt: Robotaxis nehmen an Fahrt auf
Technisch scheint ihr Betrieb annähernd gelöst zu sein, aber wie sieht es mit der Wirtschaftlichkeit einer fahrerlosen Flotte aus? Ein Überblick.
- Teil 4: USA – Eldorado für Testbetriebe mit Robotaxis
In einigen Bundesstaaten laufen Testbetriebe, Kalifornien hat gar den kommerziellen Betrieb reguliert. Von Joe Biden erhofft sich die Branche den Durchbruch.
- Teil 5: Robo-Taxis – wer macht das Rennen in den USA?
Zwei Dutzend Unternehmen testen autonome Flotten, in Kalifornien wird das Rennen vermutlich entschieden. Wir geben einen Überblick über das Bewerberfeld.
- Teil 6: Wie Kalifornien, nur größer: Robotaxis in China
Der potenziell größte Markt für autonome Flotten kann sich in puncto Technologie, Testbetriebe und Kapitalausstattung der beteiligten Firmen sehen lassen.
- Teil 7: China: Autonomes Fahren durch Planwirtschaft
Experimentierfreudige Start-ups, staatliche Infrastrukturförderung und eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung machen autonome Flotten in China zum Erfolgsrezept.
- Teil 8: Automatische Shuttles – der europäische Weg?
Robotaxi-Testläufe finden sich in Europa keine, dafür immer mehr autonome Shuttles, die als Teil des öffentlichen Verkehrs zaghafte Fahrversuche unternehmen…
- Teil 9: Grüne Welle für Robotaxis auch in Deutschland?
Dieser Tage debattiert der Bundestag einen Gesetzesvorschlag aus dem Verkehrsministerium, der Robotaxis auch bei uns den Weg ebnen könnte.
- Teil 10: Fahrerloser Transport als Teil der Verkehrswende
Robo-Taxis, people mover und autonome Shuttles – können autonome Flotten einen Beitrag zur Verkehrswende leisten?
(fpi)