Psychologie: Warum Dinge weglassen schlauer ist

Gilt es Probleme zu lösen, fügen die meisten Menschen instinktiv etwas hinzu. Dabei ist Weglassen oft die bessere Lösung, so Verhaltenspsychologe Leidy Klotz.

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(Bild: Clemson University)

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  • Gregor Honsel
Inhaltsverzeichnis

Leidy Klotz ist Professor an der University of Virginia und lehrt dort Ingenieurswissenschaften, Architektur und Wirtschaft. Dort hat er auch eine interdisziplinäre Initiative für Verhaltenswissenschaft mitgegründet. Zuvor war er als Bauingenieur und Fußballprofi tätig. Seine Forschungsergebnisse zur Kunst des Weglassens hat er 2021 in "Nature" veröffentlicht.

12 Paragrafen hatte das Erneuerbare-Energien-Gesetz, als es im Jahr 2000 in Kraft trat. Heute hat es 105 Paragrafen. Passiert so etwas nur in Deutschland?

Nein, in den Vereinigten Staaten auch. Die Gesetzgebung hat sich hier seit 1950 etwa versiebzehnfacht, sie wächst also schneller als alles andere.

Es kommen also immer neue Dinge hinzu und niemand entfernt sie jemals wieder.

Ja, das ist ein Teil des Problems. Es gibt natürlich auch gute Regulierung wie den Clean Air Act [1963 in Kraft getretenes US-Gesetz zur Luftreinhaltung]. Aber wir haben herausgefunden: Wenn wir etwas verbessern wollen, ist unser erster Gedanke immer: 'Was können wir hinzufügen?' Es ist zwar nicht unmöglich, auch ans Wegnehmen zu denken – aber es ist schwieriger. Hinzufügen ist so etwas wie die Default-Einstellung unseres Denkens.

Wie haben Sie das herausgefunden?

In unseren Experimenten haben wir Versuchspersonen zum Beispiel ein asymmetrisches Muster an einem Computerbildschirm vorgegeben. Sie sollten es dann symmetrisch machen, indem sie Felder per Mausklick wegnehmen oder hinzufügen. Doch selbst als wir finanzielle Anreize geboten haben, die Aufgabe mit so wenig Klicks wie möglich zu lösen: Die Leute fügten eher drei Felder hinzu als eines wegzuklicken. Eine weitere Aufgabe war es, die Zusammenfassung eines Textes zu verbessern. Wir dachten, die Leute würden die Zusammenfassung eher komprimieren – auch weil es so viele Anleitungen dazu gibt, unnötige Wörter beim Schreiben zu vermeiden. Aber auch hier das Gleiche: Die meisten fügten noch Sätze hinzu. So ging es auch bei Terminplänen. Wir haben Menschen ein grotesk überladenes Programm für eine Tagestour nach Washington DC gegeben – voller Restaurantbesuche, Besichtigungen und Fahrten. Wir haben die Leute gefragt, wie man dieses Besichtigungsprogramm besser machen könnte. Und sie haben immer noch mehr Punkte hineingestopft.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das Thema zu erforschen? Spielte es dabei eine Rolle, dass Sie auch als Bauingenieur gearbeitet haben?

Ich habe mich immer schon für Design und Minimalismus interessiert. Dabei geht es um dieselbe fundamentale Frage wie bei unseren Experimenten: Wie ändern wir etwas so, dass es ist, wie wir es haben möchten? Zum Beispiel beim Klimawandel, den ich als größte Herausforderung in meiner Karriere betrachte. Wir wissen, wie man ein Null-Energie-Haus baut. Wir wissen, wie man mit weniger CO2-Ausstoß auskommt. Aber ein großes Thema dabei ist immer: Wie kommen wir von diesem Wissen zu Taten? Also habe ich angefangen, mich mit dem Gedankenprozess zu beschäftigen, der uns davon abhält, gute Lösungen umzusetzen. Was sind die mentalen Barrieren dafür? Das konnte ich nie in einem Denkprozess kristallisieren.

Was war dann Ihr Aha-Moment?

Ich habe Lego mit meinem Sohn gespielt. Wir haben eine Brücke mit unterschiedlich hohen Pfeilern gebaut. Also drehe ich mich um, um einen Block zu holen und auf den niedrigeren Pfeiler zu setzen. Und während ich mich umdrehe, hat mein Sohn einfach einen Block vom höheren Pfeiler weggenommen. Und da dachte ich mir: Das ist genau das, was mich interessiert – warum ist unser erster Gedanke immer das Hinzufügen?

Vielleicht deshalb, weil die Folgen schwerer sind, wenn ich etwas brauche, aber nicht habe, als umgekehrt. Ich horte aus diesem Grund zum Beispiel Fahrradteile. Gerade bei alten Fahrrädern erspare ich mir dadurch oft viel Ärger.

Ja, bisher sind wir gut damit gefahren. Im Hinblick auf unsere evolutionären Instinkte war es wohl eine sinnvolle Option, Dinge hinzuzufügen – etwa Essen, wenn Kalorien knapp waren.

In Zeiten des Überflusses ist das aber keine so gute Idee. Was lässt sich dagegen unternehmen?

Wenn wir Verluste und Gewinne gegeneinander abwägen, schmerzen uns Verluste mehr. Das nennt sich "Verlust-Aversion". Solche Emotionen lassen sich nur schwer ändern. Aber oft genug denken wir gar nicht mal darüber nach, ob wir etwas wegnehmen können. Wenn wir in unserem Leben nur noch von hinzugefügtem Zeug umgeben sind, wird das für uns die naheliegendste Option – und so verstärkt sich das Hinzufügen nur noch weiter. Das ist möglicherweise die hilfreichste Erkenntnis aus unserer Forschung. Deshalb plädieren übrigens auch Gurus wie Marie Kondo [Bestseller-Autorin und Beraterin, die Wegwerfen und Aufräumen lehrt] oder Laotse dafür, jeden Tag etwas wegzulassen. Solche generellen Regeln oder Erinnerungen sind wirklich effizient, weil sie den Menschen im Kopf bleiben.

Hinzufügen ist, als Wirtschaftswachstum, allerdings Teil der DNA des Kapitalismus. Funktioniert dieser auch mit weniger Hinzufügen – oder sogar mit Wegnehmen?

Nach meinem Verständnis von Kapitalismus geht es dabei auch um Fortschritt. Kaum jemand wird infrage stellen, dass Verbesserungen das Ziel der Wirtschaft sind. Und ich denke, dass Wegnehmen tatsächliche Verbesserungen und Fortschritte bringt. In den Vereinigten Staaten gab es etwa ein Gesetz der Umweltbehörde, das ausgelaufene Milch auf einer Farm genauso behandelte wie ausgelaufenes Öl. Die Farmer wussten, dass das Unsinn ist, die Behörden wussten, dass das Unsinn ist – aber lange Zeit hat niemand etwas getan. Erst unter Obama wurde das Gesetz geändert. Das hat Behörden und Farmern Milliarden Dollar gespart.

Wie lässt sich erreichen, dass in der Politik öfter mal weniger gemacht wird?

Damit Wegnehmen aber wirklich eine Option wird, muss sich das System fundamental ändern. Zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt – du baust ein Gefängnis und damit erhöhst du dein Bruttoinlandsprodukt. Dabei sind Gefängnisse im Großen und Ganzen nichts, was gut für die Gesellschaft ist und was sie versuchen sollte, zu produzieren. Es gibt viel nuanciertere Maßstäbe – zum Beispiel das "Bruttonationalglück" [in Bhutan verwendete Alternative zum BIP].

Lässt sich Weglassen also lernen?

Ja. Bei den Mustern auf den Bildschirmen haben wir einigen Versuchspersonen zum Beispiel gesagt, sie sollten die Aufgaben fünf Mal lösen. Und beim dritten oder vierten Mal hatten sie dann oft die Subtraktions-Methode entdeckt. Am Ende haben wir sie dann gefragt: "Nun – welchen Weg bevorzugen Sie?" Und alle haben gesagt: "Klar, Wegnehmen ist die beste Lösung. Am Anfang habe ich daran nur nicht gedacht." Aber natürlich sind unzählige Versuche nicht der effizienteste Weg, etwas zu erledigen. Wie machen Sie das denn mit Texten?

Mir macht Kürzen tatsächlich Spaß. Für mich ist das wie eine Art Tetris: Die Textblöcke so anzuordnen, dass sie möglichst gut ineinanderpassen. Dabei hilft mir auch, ältere Versionen regelmäßig abzuspeichern, sodass nichts verloren geht.

Stimmt, ich habe auch noch 50.000 Wörter von meinem Buch auf der Festplatte. Und ich bin sicher, dass ich sie niemals wieder brauchen werde. Aber es fühlte sich gut an, als ich sie rausgenommen habe.

Wie kann man seine Kompetenz durch Wegnehmen zeigen?

Indem man richtig viel wegnimmt. Als Designer ist es Teil der Arbeit, den Dingen einen eigenen Stempel aufzudrücken. Steve Jobs ist ein gutes Beispiel dafür, dass Designs bemerkenswert werden, weil er so viel wegnahm – und dadurch seine Kompetenz gezeigt hat. Ein anderes Beispiel ist Bruce Springsteen bei seinem Album "Darkness on the Edge of Town", das noch das Lieblings-Album vieler seiner Hardcore-Fans ist. Es war ganz anders als das Album zuvor, er hat die Instrumentierung und die Texte so reduziert, dass es auffiel – und so seine Kompetenz gezeigt. Danach können wir alle streben.

Zurück zum User Interface: Warum bringen Designer trotz Koryphäen wie Steve Jobs regelmäßig völlig überladene Geräte oder Software heraus?

Es gibt ein fundamentales biologisches Bedürfnis, zu zeigen, dass wir die Welt beeinflussen können. Deshalb spielt mein Sohn zum Beispiel gerne mit Legos. Wenn er einen Turm baut, kann er mir zeigen: "Hey, ich kann das. Ich bin kompetent." Und es ist wirklich schwer, Kompetenz durch Wegnehmen zu zeigen, nicht wahr? Wenn jemand etwas wegnimmt, ist seine Leistung unsichtbar und wird oft übersehen. Aber einen Lego-Turm kann ich sehen.

Wie hat die Idee des Weglassens Ihr persönliches Leben beeinflusst?

Ich bin Akademiker. Wie jeder andere auch, habe ich viele Meetings. Jetzt evaluiere ich mehr, welche Meetings wirklich einen Wert für mich haben – und lasse die anderen weg. Die Pandemie hat uns ja alle gezwungen, Dinge wegzulassen. Das hat mir gezeigt, dass ich zum Beispiel viel Pendelei und Geschäftsreisen weglassen kann. Wenn es ums Netzwerken geht, bleibt es ja oft dabei, irgendwelchen Leuten zufällig auf Konferenzen über den Weg zu laufen. Ich habe während der Pandemie mehr interessante Leute aus der ganzen Welt getroffen, als ich je könnte, wenn ich überall hinfliegen würde.

Im April 2021 erschien Klotz' neuestes Buch "Subtract: The Untapped Science of Less" (Flatiron Books, 304 Seiten, 17,46 Euro; E-Book: 19,49 Euro).

(grh)