Eingemauerte Bibliotheken
Alles online, die Welt eine einzige Link-Sammlung: Wer derzeit Illustrierte und Tageszeitungen durchblättert, ist vor dem Internet nirgends sicher. Auf den Cyberspace gesetzte Hoffnungen können momentan nicht hoch genug sein. Relativieren tut da not.<br />
Eine der hartnäckigsten Legenden, die Vertreter von Industrie, Medien und Politik zu wiederholen nicht müde werden, ist die, wir befänden uns in einem Zeitalter des High-Tech, das nicht anders könne, als unaufhaltsam in Richtung größerer Vollkommenheit zu stürmen. Unübersehbar darin die Rolle weitsichtiger Unternehmerpersönlichkeiten, die schon als Pennäler die Vision von der Informationsgesellschaft gehabt hätten und heute verdientermaßen ihre Millionen genössen.
Galt innerhalb des letzten Jahrzehnts der PC als Vehikel einer informationstechnischen Revolution, soll im nächsten das Internet diese Rolle übernehmen. Ohne Zeifel birgt es große Möglichkeiten. Bei genauem Hinsehen fällt auf, daß die sich möglicherweise ihrem Ende zuneigende PC-Ära nicht nur eine des Fortschritts, sondern auch des Rückschritts, des weitgehenden Vergessens und Verdrängens wichtiger Leistungen und Normen war. Werte wie Verfügbarkeit, Sicherheit, Transparenz und Kosteneffektivität der Datenverarbeitung blieben dabei weitgehend auf der Strecke.
Daß EDV im allgemeinen und PCs im besonderen die Produktivität administrativer Tätigkeiten erhöht hätten, ist bis heute eine unbewiesene Behauptung geblieben. Während im Verwaltungsbereich die Arbeitsproduktivität in den letzten Jahrzehnten kaum gestiegen ist, ist die Kapitalproduktivität dramatisch gefallen (siehe Edwards' Aufsatz in[#lit02 [2]]). Gerade dieser Sachverhalt sollte Anlaß genug sein, die an das Internet geknüpften Fortschrittserwartungen kritisch zu überprüfen.
World Wide Web - wohin?
Das Grundübel der heutigen Debatten über das Internet und besonders das WWW als dessen populärstem Teil liegt darin, daß sie als Projektionsflächen für eine Vielzahl teilweise unverträglicher Interessen und Erwartungen dient. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist das die Aussicht auf
- ein tragfähiges Rückgrat der unternehmensweiten IT-Infrastruktur,
- die nächsten tausend Fernsehprogramme oder sonstigen Wege, Unterhaltung zu verkaufen (die Kirch-Turmperspektive),
- grenzenlose Werbung und grenzenloses Online-Busineß rund um den Globus, rund um die Uhr,
- eine weltumspannende Maschine zur politischen Beeinflussung,
- eine Quelle beliebig vermehrbaren Wissens,
- die entscheidende Triebfeder zukünftiger technischer Innovation,
- die Lösung der Probleme des Bildungs- und Ausbildungssystems,
- die Lösung der Umwelt- und Verkehrsprobleme,
- den Beschäftigungsmotor des 21. Jahrhunderts,
- das ideale Medium der Kommunikation zwischen den Bürgern und ihrer Partizipation an den politischen Entscheidungspozessen,
- eine immaterielle Welt unbeschränkter persönlicher Freiheit der Selbstdarstellung, der Meinungsäußerung, des Erlebens,
- das Medium oder gar Agens einer universellen Verbrüderung der Menschheit.
Das Wort 'Internet' scheint demnach den Charakter einer Chiffre infantiler Allmachtsphantasien anzunehmen: Es steht für viel Geld, alles Wissen, unbeschränkte Macht, endgültige und kostenfreie Problemlösungen, die Ankunft in der finalen Utopie.
Interaktivität als Joker
Die Teilnehmer der Diskussion - Journalisten, Politiker und Leute aus der Wirtschaft - besitzen von der in Frage stehenden Technik meist schemenhafte, durch wenig Erfahrung eingefärbte Vorstellungen und sind meist schon mit Differenzierungen wie der zwischen Internet und Online-Diensten überfordert. Die Neigung, dem Internet/WWW Eigenschaften zuzuschreiben, die lediglich theoretische Möglichkeiten sind, ist unübersehbar und geht so weit, daß manchmal der Eindruck entsteht, die betreffenden Stimmen berichteten von etwas völlig anderem, als einem selbst geläufig ist.
So etwa, wenn es heißt, das WWW sei im Gegensatz zu herkömmlichen Medien interaktiv. Selbstverständlich sind die Tageszeitung - schließlich kann jeder einen Leserbrief schreiben oder dort anrufen - und das Finanzamt - von dort kommen Formulare zum Ausfüllen und Zurückschicken - interaktiv. Post und Telekom stellen ebenfalls einen Rückkanal zur Verfügung. Die entscheidende Differenz zwischen den dem Prinzip nach gegebenen Möglichkeiten des technischen Mediums und den Grenzen der konkreten Anwendungen sowie den jeweiligen, nicht allein technisch bedingten Strukturen der Kommunikation gerät bei dem Versuch, durch eine im Erfahrungsvakuum veranstaltete Diskussion vor allem Akzeptanz zu produzieren, aus den Augen. Wo so viel bereitwillige Selbsttäuschung ist, kommt die Enttäuschung unausweichlich.
Manche Äußerungen zum Markt 'Internet' hören sich an, als ob hier ein neuer, nach Kolonisierung schreiender Kontinent zu erobern sei, mit dessen ausnahmslos unzivilisierten Bewohnern man noch Glasperlen gegen Gold tauschen könne. Angesichts der verbreiteten Hoffnungen auf das Online-Busineß erscheint die von der Regierung zum Ausweis von Modernisierungsfähigkeit hochstilisierte Verlängerung der Ladenöffnungszeiten bereits jetzt als hoffnungslos obsolet. Doch gleichgültig, ob bis 18.30 Uhr oder 20 Uhr: es gibt keinen Grund, das Kaufen mit Sozialkontakt, mit Anschauen und Anfassen zugunsten der Online-Bestellung aufzugeben. Abgesehen von Nischenmärkten wie Software: die typische Versandhauskundschaft hat ohnehin keinen Internet-Anschluß. Doch die Illusionen über die Rolle der Online-Welt sind grenzenlos und durch banale Fragen gegenwärtig kaum zu korrigieren.
Nichts spricht dafür, das ziemlich nervtötende IRC-Gequatsche einem Abend bei Freunden oder in der Kneipe, Video-on-Demand auf der Glotze dem Breitwand-Kino vorzuziehen. Weshalb freiwillig Werbung vom Netz laden, wo sie im Fernsehen und im Kino mehr als genug nervt? Telearbeiter der Zukunft dürften in der Freizeit zu Hause vor dem Bildschirm kaum sitzen bleiben, weil sie dort eh viel zu lange sitzen müssen.
Goldgräberstimmung kostet
Unternehmen, die jetzt in ihre Internet-Präsenz investieren, sollten dies illusionslos tun. Die Goldgräberstimmung, die Anbieter von entsprechender Hardware, Software und Beratung anheizen, die garantiert daran verdienen, ist unbegründet. Betriebswirtschaftlich gerechnet, kostet WWW-Präsenz die meisten Unternehmen mehr als sie bringt. Ihre Wirkung kann nur langfristig sein und sollte darauf beruhen, daß sie wirkliche Information über das Unternehmen und seine Produkte bietet. Bandbreitenfressender Grafik- und Videozauber gehört ins Werbefernsehen und ins Kinovorprogramm.
Information aus unabhängiger Quelle hat ihren Preis - auch im Internet. Die Frage ist, ob unter den Nutzern die Bereitschaft verbreitet ist, ihn zu bezahlen. Dies bedeutet unter anderem die Durchsetzung des Urheberrechts im Internet.
Nichtkommerzielles Internet läßt sich vom rein kommerziellen nicht unterscheiden. Kommerzialisierung wiederum kann in verschiedener Gestalt auftreten. Wenn Konsumenten für den Inhalt unmittelbar nichts bezahlen, müssen dessen Produzenten sich aus anderen Quellen finanzieren. Das waren, solange das Internet eine Veranstaltung von Wissenschaftlern für Wissenschaftler war, hauptsächlich die zivilen und militärischen Wissenschaftsetats der USA und weiterer westlicher Länder.
In dem Maße, in dem es ein weiteres Publikum erreicht, werden das zukünftig die Etats derjenigen sein, die Interesse an der Verbreitung der jeweiligen Botschaft haben. Gerade ein kostenloser Inhalt erhöht die Gefahr der Beeinflussung durch kommerzielle und andere Interessen, während ein kostenpflichtiger sie zwar nicht beseitigt, doch immerhin vermindert. Wer's nicht glaubt, braucht bloß kostenlose Anzeigenblätter zu studieren.
Seinen entscheidenden Vorteil vor den Online-Medien wird das bedruckte Papier in absehbarer Zukunft behalten: daß man es mit einem gewissen sinnlichen Genuß an beliebigem Ort ohne aufwendige Installation konsumieren kann. Qualität und Stabilität des Angebots im Internet werden davon abhängen, ob es auch dort eine Zukunft für Autoren und Verleger gibt und ob die allein von der werbenden Wirtschaft abhängt.
Technik, Infrastruktur und Inhalt des Internet wurden bisher zum größten Teil durch öffentliche Mittel und die Selbstausbeutung der Pioniere geschaffen. Kann sich aus dem Torso, den das Internet heute darstellt, ein lebensfähiges Gebilde entwickeln, ohne zu einer Karikatur des Privatfernsehens zu degenerieren?
Unterwegs zu neuen Grenzen
Verkehrs- und Umweltchaos ließen sich durch Telearbeit und Telekauf beseitigen, ist ein weiteres Argument der Propheten eines Goldenen Zeitalters. Anscheinend bemerkt niemand, daß elektronisch bestellte Waren schließlich körperlich auszuliefern sind - und das kostet Energie. Schließlich überbrückt die Online-Verbindung mühelos weite Distanzen zu einer Vielzahl von Einkaufsquellen, mehr als bei der bisherigen Einkausweise. Vor allem aber bietet die Vernetzung einen wesentlichen Faktor der zunehmend global organisierten Produktion, die völlig unabhängig vom Ort und Handeln der Konsumenten den Umfang der Warentransporte auf ein alles andere als umweltfreundliches Maß anschwellen läßt.
In der globalisierten Wirtschaft substituiert die elektronische Kommunikation keinesfalls vollständig den physischen Transport von Menschen. Vielmehr sind Systeme der elektronischen Kommunikation und solche des Hochgeschwindigkeitstransports komplementär. Führungskräfte und Berater reisen physisch, nicht im Cyberspace. Persönliche Anwesenheit gilt ihnen immer noch als unersetzbar. Der weltweit verteilten Produktion und den durch sie induzierten Warenströmen entspricht eine Zentralisierung der Funktionen von Planung, Organisation, Vermarktung und Finanzierung sowie der auf sie bezogenen Dienstleistungen, die neue Muster städtischer Verdichtung mit dem dazugehörenden Verkehr hervorbringt.
Bildung für alle und internationale Verständigung? Die Mehrheit der Menschheit hat nicht einmal einen Telefonanschluß, geschweige denn einen Computer. Und vor allem: Sie hat ganz andere Sorgen. Das drängendste Bildungsproblem ist nicht das Computer- oder Netz-Analphabetentum, sondern das Analphabetentum als solches.
Auch wenn sich die haltlosen Schätzungen geradezu überbieten: Niemand weiß genau, wie viele Leute das Internet mit welcher Intensität nutzen. Doch in absehbarer Zeit dürfte die Zahl der gelegentlichen Internetanwender kaum über ein Prozent der Weltbevölkerung steigen. Bei optimistischer Schätzung sind das am Anfang des nächsten Jahrhunderts 100 Millionen von 10 Milliarden; die meisten werden der gebildeten und materiell bessergestellten, hauptsächlich weißen und männlichen Bevölkerung Nordamerikas und Europas angehören. Der Rest konzentriert sich auf die Eliten in den Metropolen der Dritten Welt. Selbst Japan ist bisher im Netz kaum vertreten, noch weniger die anderen asiatischen Länder, von Lateinamerika oder Afrika zu schweigen.
Neigung zu spekulativer Überhöhung
Das Internet ist tatsächlich eine Zitadelle des weißen Mannes. Es hat mehr Ähnlichkeit mit der innen labyrinthisch verworrenen, doch außen durch glatte Mauern von klarer Geometrie umschlossenen Klosterbibliothek aus Ecos Der Name der Rose als mit einer Stätte schrankenlosen geistigen Austauschs. In jenem literarischen Gebäude erkannte Otto K. Werckmeister ein Symbol der sich immer mehr abschließenden westlichen Kultur (siehe [[#lit07 7]]).
Was sich heute in den Feuilletons scheinbar locker-flockig als Diskurs der postmodernen Informationsgesellschaft breitmacht, ist in Wahrheit ein repressives Denksystem, das zwanghaft ausblendet, was an die Welt außerhalb seiner selbst erinnern könnte. Der Weltgeist, der zuletzt in Gestalt der Partei des Proletariats erschienen und entschwunden ist, taucht als Cyberspace wieder auf, und die universelle Vermittlung, die nach Hegels Lehre alle widerstreitenden Elemente auflöst, ist gerade noch als Stoff zu einem Kalauer gut und heißt neudeutsch 'Routing'.
Gemeinsam ist den Feuilletonisten die Neigung zu spekulativer Überhöhung, wo es doch nur darum ginge, einige banale Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen: Unter der Ankündigung eines neuen Zeitalters tut's heute keiner mehr. Etwa, wenn nach der Devise 'jedem sein privates Post-X-Zeitalter' der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein 'nachsymbolisches Zeitalter' heraufkommen sieht, weil es jetzt Datenanzüge gebe, mittels derer 'die im Computer vorhandene Realität [...] durch alle Sinne unmittelbar auf den Menschen einzudringen vermag' (so Wolfgang Frühwald in der 'Zeit', [[#lit01 1]]) - eine Kombination von technischer Naivität und analytischer Abstinenz, die die Ausrede, daß der Autor Germanistikprofessor sei, nicht entschuldigt.
Ob heimlich oder offen, ob staatlich verordnet oder in Form von erklärten Selbstverpflichtungen: gerade die Kommerzialisierung wird eine steigende Neigung hervorrufen, mißliebige Äußerungen herauszufiltern, zu unterdrücken und/oder auszugrenzen. Weil einige Online-Geschäfte mit Kindergartenkindern und jeglicher Sorte von kleinkarierten Spießern machen möchten, üben sie moralischen Druck aus auf ein Medium, das mündigen Bürgern und deren Aktivitäten dienen soll. 'Zensur' ist ein häßliches Wort. Wahrscheinlich wird das Ganze politisch korrekt 'Bündnis für Anstand' heißen.
Ein vorläufig mißlungenes Informationssystem
Es geht bei solcher Argumentation nicht darum, wirtschaftliche Aktivitäten aus dem Netz auszuschließen. Vielmehr ist zu verhindern, daß partikuläre wirtschaftliche Interessen ein öffentliches Gut wie die Rede- und Informationsfreiheit beeinträchtigen. Wie gesagt, gibt es durchaus verschiedene Formen der Kommerzialisierung: solche, die eine sinnvolle Weiterentwicklung des Vorhandenen darstellen, und solche, die dies gefährden.
Sicherlich gibt es außer der Rede- und Informationsfreiheit andere Güter von universeller Bedeutung. Selbst wenn es in manchen Ländern nicht verboten ist, Antihumanes wie Rassistisches in Umlauf zu bringen, und es nicht möglich ist, zu verhindern, daß es durch das Netz auch in die Bundesrepublik gelangt, kann dies kein Grund sein, seine absichtliche Verbreitung hier zuzulassen. Auch wenn man die Carrier nicht verantwortlich machen kann und darf: Wer derartiges in Umlauf bringt, macht sich hierzulange immer noch strafbar; und dafür gibt es auch gute Gründe.
Alle, die ein wirkliches Interesse am Internet haben, weil es für sie eine bedeutende Ressource, ein wichtiges Kommunikationsmedium ist, haben auch Grund, sich gegen seine Überladung mit Ansprüchen und Projektionen zur Wehr zu setzen, die es entweder nicht erfüllen kann, oder die seine zentralen Funktionen beeinträchtigen. Die explosionsartige Vermehrung belanglosen Inhalts und unsinniger Darbietungsformen gefährdet jetzt schon seine Funktionsfähigkeit. Die allgemeine Enttäuschung, die auf die übertriebenen Erwartungen von heute folgen wird, kann auch die Entwicklung der sinnvollen Anwendungen und Techniken für morgen gefährden.
ist freiberuflicher Berater und Autor sowie als Dozent an den Berufsakademien Stuttgart (Technische Informatik) und Heidenheim (Wirtschaftsinformatik) tätig.
Literatur
[1] Wolfgang Frühwald; Vor uns die elektronische Sintflut?; Die Zeit, Nr. 27, 28. Juni 1996
[2] Paul N. Edwards; From 'Impact' to Social Process: Computers in Society and Culture; in: Sheila Jasanoff, Gerald E. Markle, James C. Petersen, Trevor Pinch: Handbook of Science and Technology Studies. Thousand Oaks, CA (Sage) 1995; S. 257 - 301
[3] James M. Nyce, Paul Kahn; From Memex to Hypertext: Vannevar Bush and the Mind's Machine; San Diego, CA (Academic Press) 1991
[4] Saskia Sassen; The Global City; New York, London, Tokyo. Princeton, NJ (Princeton University Press) 1991
[5] Saskia Sassen; When the state encounters a new space economy: the case of information industries; The American University Journal of International Law and Policy. Bd. 10:2 (1995), S. 769 - 789
[6] Saskia Sassen; Die neue Zentralität; Telepolis, 1/96; Telepolis, 1/96
[7] Otto K. Werckmeister; Zitadellenkultur: Die schöne Kunst des Untergangs in der Kultur der achtziger Jahren; München (Hanser) 1989
iX-TRACT |
|