"Nicht wie die Ratte im Labyrinth"

In der Spielewelt ist "Assassin's Creed" eine kleine Revolution: Alle Charaktere im Game verfügen über eine Intelligenz und reagieren ständig auf den Helden. Jade Raymond, Produzentin bei Ubisoft, spricht über die KI-Technologie dahinter.

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Von
  • Frank Magdans

Eine neue Form von KI für Computerspiele (5 Bilder)

Assassin's Creeed spielt zur Zeit der Dritten Kreuzzüge in Palästina. Der Spieler agiert als Assassine, der sowohl führende Kreuzritter als auch Sarazenen ermorden soll, um die Feindseligkeiten zwischen beiden Seiten zu stoppen.

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Wenn man den Ansatz von "Assassin's Creed" auf den Punkt bringen möchte, dann lautet er ungefähr so: Definiere das Action-Adventure-Genre neu und langweile den Spieler nicht mehr mit altbekannten Videospielregeln, sondern konfrontiere ihn mit den (simulierten) Gegebenheiten des wahren Lebens. Das in der Szene viel beachtete Videospiel, das im Zeitalter der Kreuzzüge im Nahen Osten spielt, erscheint in Kürze für Sonys PS3, Microsofts Xbox 360 und den PC – und soll nicht nur grafisch brillieren. Die verwendete künstliche Intelligenz (KI) der Spielfiguren setze neue Maßstäbe, sagt Jade Raymond, Produzentin bei Ubisoft Montreal, im TR-Interview.

Technology Review: Frau Raymond, wenn ein Produkt vorab so hoch gehandelt wird, dann muss der Druck, der auf dem Team lastete, ja enorm gewesen sein…

Jade Raymond: Selbstverständlich. Denn wir wollten etwas völlig Neuartiges machen, also haben wir die Latte für uns selbst hoch gesetzt. Das ist sehr viel Arbeit, klar – besonders, wenn man bei Null anfängt und eine neue Engine und neue Tools entwirft. Hart war, dass es nicht möglich ist, von Anfang an zu wissen, wie viel Spaß das Gameplay am Ende macht.

TR: Dass die Menge auf den Spieler reagiert, spielt eine zentrale Rolle. Wie schaut die Struktur der KI dahinter aus?

Raymond: Was die Menge angeht, so haben wir verschiedene Schichten angelegt. Zunächst haben wir ein Bedürfnis-System entworfen, so dass die Leute, auf die der Spieler trifft, grundlegenden Bedürfnissen folgen. Sie unterhalten sich, bilden Gruppen, stehen an einem Obststand Schlange oder ruhen sich auf einer Bank aus. Es soll so aussehen, als würde sich die Menge natürlich bewegen. Dann gibt es eine Schicht, die ihr Reaktionsvermögen steuert. Hier werden Altersstufen und Charakterzüge berücksichtigt. Ein Junge reagiert anders als eine alte Frau, ein schüchterner Mann anders als ein mutiger. Es werden sämtliche Möglichkeiten dabei berücksichtigt. Wenn jemand auf offener Straße ermordet wurde, dann rufen manche Leute nach Hilfe oder den Wachen.

Es soll wie im realen Leben wirken. Darüber hinaus gibt es Archetypen, etwa den Betrunkenen. Kollidiert der Held mit ihm, dann schubst ihn der Betrunkene. Dann kann es passieren, dass es zu einem Gerangel kommt, je nachdem, ob der Held mit einer anderen Person oder einer Wache in Berührung kommt. Die Wachen selbst werden aber wiederum von einem anderen KI-System gesteuert. Es gibt welche, denen nicht bewusst ist, dass ein Meuchelmörder in der Stadt ist. Andere laufen misstrauisch herum und könnten jeden Moment ihr Schwert ziehen. Andere wissen, dass der Meuchelmörder in der Nähe ist, so dass sie sofort in Aktion treten, sobald etwas geschieht, das seine Handschrift trägt. Passiert etwas, verfolgen sie ihn. Dabei fließen Wegfindung und moralische Entscheidungen ein. Es gibt also allerhand Interaktionen.

TR: Bei solch empfindlichen Alarmsystemen läuft doch bestimmt auch mal was schief, oder?

Raymond: Klar, dass man andere Reaktionen erhält, als man eigentlich will. Es war schließlich so viel zu berücksichtigen. Der Held kann in eine kleine Menschenmenge rein rennen und nichts passiert. Er taumelt vielleicht ein wenig. Ist aber eine dickere Person darunter, dann stürzt er sehr wahrscheinlich mit ihr zu Boden.

Dann haben wir die Wachen entworfen, die den kürzesten Weg suchen, um den Helden zu fangen, wenn er aufgefallen ist. Diese Verfolgung haben wir initiiert und zwei Wachen sind ihm hinterher. Dann ist einer von ihnen mit einer anderen Person zusammengestoßen und hingefallen. Anstatt dem Helden zu folgen, ist er auf die Person losgegangen und griff sie an. (lacht) Das war nicht die Art von Gameplay, die wir beabsichtigten. Aber das geschieht, wenn man neue Ansätze verfolgt – es war die typische Trial-and-Error-Methode.

TR: Mit welchem Resultat?

Raymond: Manchmal mussten wir die Komplexität reduzieren. Man muss Grenzen ziehen, damit der Spieler nicht völlig verloren da steht. Je mehr Komplexität und Tiefe, desto schwieriger ist zu verstehen, was geschieht. Selbst wenn man etwas Neues schaffen will, muss man Abstriche machen. Es muss immer noch nachvollziehbar sein, damit der Spieler seine Strategie verfolgen kann.

TR: Große Veränderungen würden den Spieler also überfordern?

Raymond: Die Komplexität steht der Lesbarkeit gegenüber. Daher mussten wir beim Programmieren der KI immer wieder neue Regeln aufstellen.

TR: Die alt hergebrachten Regeln der Computer- und Videospielwelt wollen Sie und Ihr Team aufbrechen – "Organic Design" nennen Sie das. Was verbirgt sich genau dahinter?

Raymond: Das geht auf Patrice Desilets, unseren Creative Director, zurück. Der Ansatz mag für viele Spieler beunruhigend sein, denn bislang war ja klar, wenn ich A oder B mache, was dann geschieht. Patrice wollte diese Regeln nicht mehr. Menschen, die kaum Erfahrungen mit Games haben, werden damit weniger Probleme haben. Denn es geht um alltägliche Regeln, um Regeln, die einen Sinn machen.

Ich finde das Konzept gut, denn ich glaube, Leute spielen Games, weil sie vereinfachte Regeln vorfinden, die eine Beziehung zu den Regeln des realen Lebens darstellen. Wenn du etwa ein Rätsel gelöst hast, dann ist das wie eine Situation im Leben. Es ist eine Art von Vollkommenheit. Dabei ist es egal, ob es ein Kreuzworträtsel ist, bei dem du gerade auf das passende Wort gestoßen bist, oder ob du in einem Videospiel herausgefunden hast, welcher Weg der richtige ist. In "Assassin's Creed" ist es anders herum. Du musst die Regeln des wahren Lebens auf das übertragen, was geschieht, und daraus die Essenz gewinnen. Ich glaube, daran finden mehr Menschen Gefallen.

TR: Erfüllt das die Definition eines "Next-Generation"-Games?

Raymond: Wir nehmen davon Abstand, dass der Spielinhalt bloß daraus besteht, wie eine Ratte den richtigen Weg durch ein Labyrinth sucht, um an den Käse zu kommen. Bislang musste der Spieler nichts anderes tun, als dies zu bewältigen. Davon befreien wir ihn. Jetzt gibt es multiple Strategien und keinen vorgefertigten Pfad mehr. Das macht "Assassin's Creed" zu einem Next-Gen-Game, ja.

TR: Wenn man ständig abwägen muss, was geht und was nicht, wie behält man dann den Überblick?

Raymond: Das war tough. Am Anfang einer jeden Produktion muss man einen Film erstellen, der vorwegnimmt, welches Spielerlebnis man am Ende erzielen möchte. Wir wollten dem Spieler das Gefühl geben, er wäre eine Klinge in der Menge. Das muss man immer im Hinterkopf haben. (bsc)