Missing Link: Herr Spahn, bitte in Zimmer 1
Den künftigen Gesundheitsminister Jens Spahn erwartet das größte IT-Projekt: die Vernetzung der medizinischen Betreuung mit elektronischen Gesundheitskarten, Arztausweisen und speziellen VPN-Routern. Ein Himmelfahrts- oder ein Kanzlerfahrts-Kommando.
(Bild: StockSnap)
- Detlef Borchers
Geht alles nach Plan M wie Merkel, wird der CDU-Politiker Jens Spahn Gesundheitsminister der kommenden Großen Koalition. Der ausgewiesene Merkel-Kritiker würde den treuen Merkel-Anhänger Hermann Gröhe ablösen und ein Ministerium übernehmen, in dem viel Arbeit wartet und wenig Ehre. Denn seit der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) haben sich viele Minister im Amt verschlissen worden: Ulla Schmidt, Philipp Rösler, Daniel Bahr und eben auch Hermann Gröhe. Unter seiner Leitung kam ein eHealth-Gesetz zustande, dass für Tempo sorgen sollte und den Beteiligten mit finanziellen Sanktionen drohte, sollten gesetzte Termine nicht eingehalten werden.
Der wichtigste Termin war der 30. Juni 2018. Bis dahin sollten rund 200.000 Arztpraxen und Krankenhäuser an die medizinische Telematik-Infrastruktur angeschlossen werden. Dieser Termin platzte. Auch die neue Fristsetzung mit dem 31. Dezember 2018 ist reines Wunschdenken. Insofern kann die Berufung von Jens Spahn auf den Ministerprosten als Versuch von Angela Merkel verstanden werden, ihren innerparteilichen Kritiker in der unerbittlichen Mühle des "weltgrößten IT-Projektes" (so Gröhe) mürbe zu machen. So sagen Kommentare bereits sein Scheitern voraus.
Mit der Materie vertraut
Auf der anderen Seite ist Jens Spahn anders als Hermann Gröhe "vom Fach", da er einstmals gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU war und sich in dieser Funktion bereits mit der Gesundheitskarte und der dazugehörigen medizinischen Telematik beschäftigt hatte. So warnte er 2015 vor Bestrebungen, die eGK in den Tiefschlaf zu schicken und erklärte das Papier-Rezept zu einem Anachronismus. Zusammen mit dem SPD-Politiker Karl Lauterbach hatte er schon 2013 Eckpunkte zur Telematik in den damaligen Koalitionsvertrag mit eingebracht und auch am aktuellen Koalitionsvertrag der künftigen Regierung mitgearbeitet. Dieser legt fest, dass aufbauend auf der Gesundheitskarte eine elektronische Patientenakte bis 2021 eingeführt sein soll.
"Wir werden die Telematikinfrastruktur weiter ausbauen und eine elektronische Patientenakte für alle Versicherten in dieser Legislaturperiode einführen", so die ehrgeizige Zielvorgabe, die zudem ausdrücklich festhält, dass die so gespeicherten Daten das Eigentum der Patientinnen und Patienten sein sollen. Wie diese Patientenakte ausgestaltet sein soll, darüber gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie es nicht nur das Programm der Medizin-IT-Messe ConHIT zeigt. Beim epa-Forum der Anbieter von Patientenakten sind nicht weniger als 14 deutsche Projekte gelistet. Gelingt es Spahn, die divergierenden Interessen auf den Punkt zu bringen und die vereinheitlichte Akte auch noch im gesetzten Zeitrahmen einzuführen, wäre dies sein Meisterstück und Spahn selbst erster Anwärter auf den Chefposten der digitalisierten Bundesrepublik.
Zu erwähnen wäre freilich noch, dass abseits aller IT-Fragen eine Reihe weitere Baustellen auf den CDU-Politiker warten: da wäre die Verbesserung der Pflegesituation in Deutschland, die Reform des Vergütungssystems für Ärzte oder die von Spahn bevorzugte Einführung von "Terminservicestellen", damit Kassenpatienten ähnlich schnell Termine bekommen wie die Privatversicherten. Außerdem muss der CDU-Politiker gegen die Forderung der SPD nach der schrittweisen Einführung einer Bürgerversicherung antreten. All dies scheint ihn nicht anzufechten: "Ihre gesundheitspolitischen Fragen bitte ich Sie mir nach meiner Ernennung zum Minister erneut zuzusenden," so Spahns Antwortschablone auf unsere Mail-Anfragen.
Erste Erfahrungen ausgewertet
In dieser Schwebe-Situation ist ein Blick auf die aktuelle Lage des weltgrößten IT-Projektes so etwas wie die Bestandsaufnahme, von der jeder Gesundheitsminister ausgehen muss. Der Zeitpunkt dafür ist günstig. Die ersten circa viertausend Praxen von Ärzten und Zahnärzten und Physiotherapeuten sind per Konnektor an die telematische Infrastruktur angeschlossen worden und können nun im Zuge des "Versichertenstammdatenmanagenements" (VSDM) online die Gültigkeit der Gesundheitskarten eines Versicherten prüfen. Zudem ist in dieser Woche der Evaluationsbericht der Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg veröffentlicht worden, in dem die Erfahrungen von 500 Praxen ausgewertet wurden, die sich am VSDM-Pilotest beteiligten. Last but not least hat sich nun auch die Vertreterversammlung der kassenärztlichen Bundesvereinigung für Nachverhändlungen bei den Fristsetzungen, Terminen und Sanktionsandrohungen ausgesprochen. Doch dazu später mehr.
Im Pilottest, über den auch die Medizinpresse berichtet, zeigte sich, dass Einlesen der Gesundheitskarte im Schnitt 6,5 Sekunden braucht, wenn Stammdaten aktualisiert werden müssen. Normalerweise reichen 2 bis 3 Sekunden. Insgesamt aber stieg der Zeitaufwand beim Einlesen der eGK vor allem deshalb, weil viele Patienten Karten vorzeigten, die nicht online-fähig waren, weil sie zur 1. Kartengeneration gehörten. Hier musste häufig mit der Krankenkasse telefoniert werden, um den Versichertenstatus abzufragen. Das größte Problem der Praxisangestellten war es, den Patienten zu erklären, warum ihre Karte ungültig ist und sie eine neue brauchen.
Auch in den abseits des Pilottests erfolgreich angeschlossenen Praxen ist das ein Problem, sind doch die Ärzte wie Zahnärzte genervt davon, das "ziemlich viele ungültige eGKs" im Umlauf sind, wie ein Beteiligter erzählt. Das Problem endet übrigens nicht in der Praxis: rufen die Patienten bei den Hotlines ihrer gesetzlichen Krankenkassen an, um eine neue Karte anzufordern, wissen viele Kassen offenbar noch nicht, dass die telematische Infrastruktur arbeitet und sie beim Karten-Dienstleister Ersatz für die ungültigen Karten anfordern müssen.
Zurück zum Pilottest: Hier ergab die Auswertung durch die Nürnberger Wissenschaftler, dass 41,3 Prozent der Befragten den Stammdatenausgleich ausgereift genug für den nun angelaufenen allgemeinen Rollout hielten, während 30,3 Prozent das Verfahren als unausgereift bezeichneten und 24,3 Prozent bei der Frage unentschieden waren. Glanzzahlen sind das nicht. Rund die Hälfte der Befragten meinte immerhin, dass die Online-Anbindung zu einer besseren Datenqualität im Praxisalltag führe und 61 Prozent glaubten, später weitere Anwendungen der eGK zu nutzen, etwa die Anlage des Medikationsplanes oder eines Notfalldatensatzes auf der Karte. Soweit die Begleitforschung.
Konnektoren dringend gesucht
Dennoch ist das zentrale Problem nach wie vor die völlig unzureichende Versorgung mit Konnektoren, da es derzeit nur einen vom BSI zugelassenen Konnektor gibt, die Kocobox Med+. Drei weitere Konnektoren sind angekündigt und sollen Marktvielfalt herstellen, wie es die Projektgesellschaft Gematik einst formulierte. Sie haben aber noch keine Zulassung durch das BSI bekommen: Da ist der Medical Access Port der Telekom, der Rise-Konnektor und der Konnektor von Secunet. Alle vier Konnektoren sind VPN-Router mit einem gehärteten Debian als Betriebssystem und werden von unterschiedlichen Bündelangeboten vertrieben.
Für Zahnärzte gibt es beispielsweise die ZIS GmbH, die den Konnektor von Secunet installiert, oder die Consys, die auf den Medical Access Port der Telekom setzt. Eine Selbstinstallation in der Art, dass ein Heilberufler sich den Heilberufsausweis zulegt, die Institutionskarte (SMC-B) bestellt und einen Konnektor, den sein mit der Praxis-EDV vertrauter Teilzeit-Admin installiert, ist nicht vorgesehen: die Konnektoren dürfen nur mit dem Geld- und Werttransportdienst an zertifizierte Installateure verschickt werden.
Das größte und bekannteste, einzig sofort installierbare Angebot kommt von der Compugroup mit der zugehörigen Kocobox. Man ist derzeit Monopolist und lässt sich das fürstlich bezahlen, etwa mit einem Frühlingsangebot von 2353 Euro für den Konnektor für eine Zahnarztpraxis. Hier wird mit den Sanktionsdrohungen spekuliert, die das eHealth-Gesetz unter Hermann Gröhe erzeugt hat: Die Vollpauschale von 2557 Euro bekommen nur Praxen, die im 1. Quartal 2018 zuschlagen, danach geht es rapide bergab, mit 2344 Euro im zweiten und 1155 Euro im dritten Quartal 2018. Dabei gilt es zu beachten, dass diese Beträge nicht ab einer Bestellung, sondern nur nach ab der vollständigen Installationen inklusive arbeitsbereitem VPN-Anschluss gezahlt werden. Wer auf den notwendigen Arzt/Heilberufsausweis und die für den Router notwendige interne SMC-B-Karte (=Institutionenkarte der Praxis) warten muss, hat Pech gehabt und muss Verluste hinnehmen.
Von daher ist es nicht verwunderlich, wenn Anbieter von Bündellösungen ohne zugelassenen Konnektor wie DGN eine Änderung der Finanzierungsvereinbarung für Praxen fordern. Sie fühlen sich benachteiligt. Damit sind wir wieder bei der kassenärztlichen Bundesvereinigung, die in dieser Woche realisiert hat, was unrund läuft und Kassenärzten schadet. In einer Stellungnahme kündigt KBV-Vorstandsmitglied Thomas Kriedel kämpferisch an: "Erstens wird die KBV sofort in die Verhandlungen mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung einsteigen, um die aktuellen Marktpreise bei der Finanzierung der TI-Komponenten zu berücksichtigen. [...] Zweitens werden wir, um das Sanktionsrisiko für die Praxen zu entschärfen, auf die Politik zugehen, um eine Fristverlängerung um ein weiteres halbes Jahr bis Mitte 2019 zu erwirken."
Mit dem Start der vernetzten Medizin-Telematik ist der nächste Gesundheitsminister also ordentlich gefordert, auch über die Legislaturperiode hinaus. Denn die bei Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern (jeweils für 3 anwesende zeichnungsberechtigte Ärzte muss ein VPN-Router-Rack in den Serverschrank) installierten Systeme haben eine Laufzeit von fünf Jahren und müssen danach ausgetauscht werden: Im Netz der Gesundheitsdaten aller Bürger soll es schließlich sicherer zugehen als in dem Behördennetz IVBB, wo der Bundeshack die Gemüter erregt. (tiw)