Nach dem Change Management ist vor dem Change Management, Teil 1

Leitideen

Inhaltsverzeichnis

Dass Veränderungen schwierig sind, ist aus den persönlichen Erfahrungen eines jeden bekannt. Viele Diäten haben nicht den gewünschten Erfolg, weil Menschen es nicht schaffen, ihre Essgewohnheiten umzustellen. Veränderungen in einer bisher vertrauten Benutzeroberfläche können einen User schier in den Wahnsinn treiben. Und die meisten kennen wohl das merkwürdige Gefühl, wenn man in eine Gruppe neuer Menschen kommt.

Gewohnheiten und Routinen führen dazu, dass Personen über Verhalten und Handlungen nicht mehr nachdenken müssen, da sich ein Automatismus etabliert hat. Dieser hat durchaus seine Vorteile, denn Handlungen und Verhalten lassen sich so schnell abrufen, ohne das Erfordernis des zeitaufwendigen Durchdenkens. In vielen Bereichen wird die Fähigkeit genutzt, sich Routinen aneignen zu können, um die Konzentration auf andere Faktoren zu lenken und somit bessere Leistungen zu erzielen. Zum Beispiel muss ein Speerwerfer – ein Athlet in einer hochgradig technischen Sportart – seine Anlaufroutine viele Tausende Male trainieren, bis er im Wettkampf diesen Prozess automatisch abrufen und sich somit voll auf den Wettkampf konzentrieren kann.

Leider haben Routinen und Gewohnheiten aber auch den Nachteil, dass kleine Abweichungen im Handeln häufig gar nicht mehr wahrgenommen werden und sich Fehler sozusagen durch die Hintertür einschleichen können, sobald eine Selbstreflexion oder Supervision nicht mehr ausreichend stattfindet. Die Aussage "Das haben wir schon immer so gemacht!" kennen sicherlich alle – von sich selbst wie von anderen. Auch wenn sie sich nicht als zufriedenstellend werten lässt, drückt diese Aussage genau das aus, was Routinen ausmacht: Das wurde schon immer so gemacht. Zusätzlich bedeutet es in vielen Fällen auch, dass das automatisierte Vorgehen gar nicht mehr hinterfragt wird in Bezug auf Vollständigkeit, Passgenauigkeit für die spezielle Situation oder das individuelle Problem, Aktualität, Konsequenz und – Richtigkeit.

Auf einer IT-Fachtagung im letzten Jahr zum Thema Usability Engineering gab es einen Vortrag zur Gestensteuerung von Systemen und Programmen. Der Referent stellte den aktuellen Stand der Entwicklungen dar und sprach Ziele und Zukunftsaussichten sowie Problemfelder an. Erstaunlich war, dass selbst in dieser Gruppe von IT-Spezialisten und -Entscheidern die Anzahl der Negativargumente groß war, aber nicht aufgrund sachorientierter Fragen wie der Programmierbarkeit oder Anwendertauglichkeit, sondern mit persönlichen Aussagen wie "Ich weiß nicht, ob ich dieser Steuerung vertrauen kann" oder "Das habe ich noch nie so gemacht". An dem Beispiel wird schnell deutlich, dass selbst in der sich gerne innovationsfreudig gerierenden IT-Branche Veränderungen nicht immer mit offenen Armen empfangen werden.

Sowohl die allgemeine als auch die Sozialpsychologie forschen seit Langem zum Phänomen der Schwierigkeiten bei Veränderungen. Als Urvater des psychologischen Ansatzes zur Gruppendynamik und des Veränderungsprozesse gilt Kurt Lewin mit seinem 3-Phasen-Modell. Das Tempo und der Wirkungsgrad von Veränderungen innerhalb eines Teams hängen vom Verhalten der Gruppe und vom Einfluss der externen Faktoren auf diese Gruppe ab. Nach Lewin ist das Verhalten innerhalb einer Gruppe immer die Summe von Personen- und Situationsfaktoren. Das Verhalten jedes Gruppenmitgliedes ergibt sich folglich aus der Interaktion der eigenen Persönlichkeit mit verschiedenen Umweltfaktoren der Gruppe (z. B. Zusammensetzung des Teams, Führung des Teams, Kultur der Organisation, Zeitrahmen oder Strukturen) sowie dem Verhalten und den Charakteren der anderen Gruppenmitglieder und der aktuellen Situation. Als Konsequenz hieraus ist ein holistischer Ansatz für ein Veränderungsmanagement immer hilfreich.

Die Personenfaktoren setzen sich nach der Selbstdiskrepanztheorie von Edward Tory Higgins zusammen aus dem Selbstkonzept einer Person, der Wahrnehmung durch eine andere relevante Person und der Reaktanz (s. folgende Absätze) [1].

Das Selbstkonzept beschreibt die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Eigenschaften. Zusammen mit der ebenfalls subjektiven Wahrnehmung und dem daraus resultierenden Feedback der anderen relevanten Personen bildet es den Selbstwert einer Person. Um diesen zu stärken, bevorzugen die meisten Menschen ein positives Feedback, denn negative Rückmeldungen könnten den Selbstwert verringern oder gar zerstören. Da bei Veränderungen positive Feedbacks häufig nicht erwartet werden, ließen sich anstehende Veränderungen somit als Gefahr für den Selbstwert wahrnehmen.

Mit Bezug auf das grundlegende menschliche Bedürfnis, frei in Entscheidung und Meinung zu sein, stellt die Reaktanz einen Zustand motivierender Erregung dar, um eventuelle Hindernisse für diese Freiheit – zum Beispiel Veränderungen – aus dem Weg zu räumen. Dieses psychologische Phänomen ist häufig der Grund für Ablehnungen von Veränderungen, besonders wenn sie von "oben" angeordnet sind und keine freie Entscheidung darstellen. In diesem Fall werden Veränderungen als Einschränkung der Freiheit empfunden und schlichtweg abgelehnt oder gar boykottiert.

Hinsichtlich der beschriebenen Personenfaktoren ergeben sich folgende Leitideen für die neue Führungskraft, um Veränderungsprozesse positiv und erfolgreich vorzubereiten, einzuleiten und umzusetzen:

1. Gib regelmäßig ein eindeutig erkennbares positives Feedback.

2. Zeige anderen, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Eigenschaften noch in ihnen stecken, um ihren Selbstwert zu stärken.

3. Sei Vorbild bei Veränderungen und spreche offen über sie, um anderen die Chance zu geben, sich frei für die Veränderungen zu entscheiden.

Zu den Situationsfaktoren zählen neben vorhandenen Hierarchien und Gruppengröße die Kommunikation in Bezug auf Informationen, Meinungsbildung und Ziele. Hinzu kommen weiche Faktoren wie die Atmosphäre im Team, persönliche Konflikte innerhalb und außerhalb der Gruppe sowie die Teamkultur. So liefern auch die Situationsfaktoren zwei weitere wichtige Leitideen für eine zeitgemäße zukunftsorientierte Führungsarbeit im Hinblick auf eine veränderungsoffene Teamkultur:

4. Stärke die eigene Wahrnehmung in Bezug auf die verbalen und nonverbalen Signale und Botschaften der Teammitglieder.

5. Eine offene Kommunikation ist ein wichtiges Führungswerkzeug.

Dass Lernen als Aneignung von Wissen durch Aufmerksamkeit und Gedächtnis zwar wichtig ist, aber nicht zwangsläufig dazu führt, dass Verhalten sich ändert, hat die sozialpsychologische Forschung schon mit French und Marrow 1945 [2] entdeckt. Vielmehr bedarf es einer entsprechend individuellen Motivation, damit der Mensch sein Verhalten erfolgreich und dauerhaft anpasst. Um Veränderungen erfolgreich umzusetzen, muss die neue Führungskraft die individuellen Motivatoren der einzelnen Teammitglieder erkennen und mit diesem Wissen das eigene Handeln und das Kommunikationsverhalten anpassen. So ergibt sich eine weitere Leitidee:

6. Finde durch Beobachtung heraus, was die individuellen Motivatoren für die einzelnen Teammitglieder sind und nutze diese

Durch die großen Unsicherheiten, die Veränderungen mit sich bringen, ist es für viele Menschen extrem wichtig, Orientierungspunkte in ihrer Umwelt zu haben. Eine Führungskraft sollte diese Orientierung nicht nur in "den stürmischen Zeiten von Veränderungen" geben und das Team sicher lotsen, sondern stets als Vorbild fungieren und als "best practice" oder "show case" die angestrebten Ziele vorleben.

Für viele Menschen bedeuten allein schon angekündigte Veränderungen Stress; und meist bringen angestrebte Veränderungen dann auch tatsächlich Stress mit sich. Aus sozialpsychologischer Sicht neigen Menschen unter Stress zu irrationalen Bewertungen und Verhaltensweisen, die dann von Dritten zum Teil als "kopfloses Handeln" empfunden werden. Eine gute Orientierung und Führung durch eine vertrauenswürdige und verlässliche Führungskraft kann zum einen dazu beitragen, den persönlichen Stress des Einzelnen zu verringern und zum anderen dadurch für etwas mehr Rationalität sorgen. Hierbei ist zu bedenken, dass Vertrauen und Verlässlichkeit Faktoren sind, die sich eine Führungskraft schon lange vor Beginn eines Veränderungsprozesses "verdienen" muss. Hieraus ergibt sich eine weitere Leitidee für die Führungskraft:

7. Sei dir stets bewusst, dass du die Person bist, die das Team führt und ihm Orientierung gibst.