Kalkulierte Emotionen für Milliarden
Was die Videoplattform TikTok so erfolgreich macht und wo ihre Gefahren liegen
Kinder und Jugendliche lieben TikTok, Verbraucherschützer und Politiker kritisieren die Plattform für kurze Handyvideos scharf. Was ist das Besondere an dem Dienst und wo liegen die Probleme? Ein ausführlicher Blick auf die Algorithmen, die App, das Geschäftsmodell und die Nutzerschaft.
TikTok ist ein Riesenerfolg. Im September 2021 hat der Dienst des chinesischen Anbieters ByteDance nach eigenen Angaben die Marke von einer Milliarde Nutzern geknackt. Hierzulande nutzten 2020 laut ARD/ZDF-Onlinestudie bereits 19 Prozent der unter 30-Jährigen den Kurzvideodienst. Laut JIM-Studie (Studien „Jugend, Information, Medien“ des deutschen Forschungsverbunds Südwest) schaute sich 2020 fast jeder zweite 12- bis 19-Jährige auf TikTok mehrfach wöchentlich Kurzclips an. TikTok wächst weiterhin stark und zählte auch in den letzten Monaten zu den am meisten heruntergeladenen Apps in den App-Stores.
Wie erreicht TikTok diesen immensen Zulauf? Sicherlich spielte die Coronakrise eine große Rolle. Jugendliche und Erwachsene hatten mehr Zeit, Inhalte aus dem Netz zu konsumieren, als bisher. Die Kurzvideos auf TikTok haben dabei offenbar die Bedürfnisse vor allem junger Surfer besser bedient als die anderer Plattformen.
Der Betreiber ByteDance hat es verstanden, rund um Clips von meist 15 bis 45 Sekunden Länge ein neues Medium und Geschäftsfeld aufzubauen. Die TikTok-App präsentiert die kurzen Videos geschickt und macht es so einfach wie möglich, sie zu abzurufen. Sobald man die App öffnet, startet das erste Video automatisch. Wer TikTok das erste Mal ausprobiert, dürfte zunächst ein Tanz-, Tier-, Comedy- oder Lip-Sync-Video zu sehen bekommen, bei dem ein TikToker seine Lippen synchron zur Musik bewegt. Diese Genres sind die beliebtesten bei TikTok.
Die App ist nicht auf solche Trendinhalte beschränkt. Es gibt viele tieferschürfende Videoproduzenten auf TikTok und auch etliche etablierte Medien publizieren dort, etwa die Tagesschau, und sogar Heise hat dort seinen Kanal für Tipps und Tricks. Gefällt dem Zuschauer ein Video nicht, ist er mit einem Wisch (Swipe) beim nächsten.
Wer nach mehreren Swipes kein passendes Video gefunden hat, dem schlägt der „Entdecken“-Bereich ein größeres Spektrum an angesagten Themen und Influencern vor. Man kann auch gezielt auf die Suche gehen. Wer einen konkreten Suchbegriff (etwa „comedy“) eingibt, dem zeigt TikTok thematisch verwandte Videotrends, Sounds („Say whaaaat?“) und Hashtags (#Comedy Challenge). So finden auch Unerfahrene schnell Videos, die sie interessieren.
Schnell zusammengeklickt
TikTok macht es seinen Nutzern sehr einfach, unterhaltsame Kurzvideos mit allerlei Bling-Bling zu produzieren (maximal 180 Sekunden). Das fängt schon damit an, dass der Video-Editor der App die aktuellen Chart-Hits und Sounds (klatschen, weinen, lachen) anbietet, mit denen sie ihren Videos eine emotionale Note verleihen können.
Morphing-Effekte verwandeln Jungen- in Mädchengesichter, Heiligenscheine beleuchten Selfie-Gesichter und eine intelligente Bildanalyse lässt animiertes Konfetti realistisch hinter Objekten verschwinden. So kann aus einem flüchtig aufgenommenen Videoclip ein Effektfeuerwerk mit viel Reichweite werden.
Ist das Video fertig, versieht man es mit passenden Hashtags (#Hund, #Tanzen, #Humor), damit es sich besser finden lässt. Hashtags sind ein wichtiges Element für die Vernetzung der TikToker. Hashtags spielen auch bei einer TikTok-Spezialität eine Rolle: Sie helfen bei sogenannten Duets, ein zitiertes Video zu benennen. Bei Duets reagieren Produzenten auf die Videos anderer Nutzer.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe anderer sozialer Funktionen, so kann man andere Videos mit Herzen oder Likes markieren, sie kommentieren und Produzenten folgen. Gefällt einem Nutzer ein Video besonders gut, kann er dem Producer auch virtuelle Geschenke machen.
Das Geschäftsmodell
Um TikTok zu verstehen, muss man sich das Werbekonzept anschauen. TikTok baut Werbung (Ads) auf unterschiedliche Arten in seine Videofeeds, die Landing- und Entdecken-Page ein. ByteDance und Firmen, die auf TikTok werben, arbeiten mit Influencern zusammen, die Werbebotschaften und Produkte nicht nur im Umfeld platzieren, sondern in ihre Videos einbauen.
Die Werbemöglichkeiten vermarktet ByteDance über seine Plattform „TikTok for Business“. Wenn Nutzer durch den Videofeed scrollen, zeigt TikTok Werbung als sogenannte In-Feed-Ads zwischen den Videos an, ähnlich wie bei Facebook-Stories. Anzeigen, die direkt beim Öffnen des Videos angezeigt werden, nennt TikTok Brand Takeover Ads. Sie bestehen aus einem Bild oder einer kurzen GIF-Animation. Ein integrierter Button lenkt Nutzer auf den TikTok-Kanal des Unternehmens, auf dem sie mehr über Werbeaktionen und Produkte erfahren. Filmstudios wie Twentieth Century Fox bewerben so etwa ihre aktuellen Kinofilme.
Videoeffekte, die speziell auf werbende Firmen zugeschnitten sind, peppen als sogenannte Branded Effects Videos auf.Damit können TikToker ihre Videos mit besonderen Augmented-Reality-Objekten schmücken, etwa eine Löwenmaske von Disney auf das eigene Gesicht projizieren, während sie zu einem Hit von Lady Gaga tanzen. Weil solche Effekte nur für kurze Zeit im Editor verfügbar sind, sind sie etwas Besonderes und bekommen mehr Reichweite.
Hashtag-Challenge
Das beliebteste Werbeformat ist laut TikTok die sogenannte Branded-Hashtag-Challenge (BHC). Nutzer werden dabei animiert, zu einem vorgegebenen Thema selbst kleine Werbefilme zu drehen und diese mit einem Firmen-Hashtag zu versehen. Ein Beispiel: Mercedes-Benz wollte seine Bekanntheit bei jungen Leuten in Deutschland und England steigern. Die lassen sich nach Meinung von Marketingexperten stärker von Erlebnissen und Gefühlen beeinflussen als von den Produkteigenschaften selbst.
Der Autokonzern rief daher in seiner Hashtag-Challenge dazu auf, den klassischen Mercedes-Stern in ihrem eigenen Stil – etwa als Tanz, Zeichnung oder Zauberstück – neu zu interpretieren.
In der ersten Phase kurbelte der Autokonzern seine Challenge durch Influencer mit besonders großer Reichweite an. Deren Videos brachten der Marke über zwei Millionen Aufrufe. Auf Basis dieser Reichweite folgte eine zweite Phase: Mercedes präsentierte die erfolgreichsten Influencer-Videos durch Anzeigen zwischen Videos einer breiteren Nutzergruppe. Diese likten, teilten und kommentierten die Videos und erhöhten damit die Reichweite abermals. Das Resultat: 180 Millionen Aufrufe und 30.000 neue Follower für Mercedes-Benz.
Neue (alte) Influencer
Genauso, wie YouTube eine neue Gattung von Medienproduzenten hervorgebracht hat, so ist auch rund um TikTok eine neue Community von Kurzvideoproduzenten entstanden.
Die Amerikanerin Bella Poarch ist ein TikTok-Star und sie begann ihre Influencer-Karriere bei Instagram. Ihre Spezialität sind Lip-Sync-Videos. Sie hat mehr als 80 Millionen Follower und ihre über 400 Videos haben etliche Millionen Views. Damit verdiente sie 2021 etwa 200.000 US-Dollar.
Wie bei manchen YouTube-Stars entwickeln ihre Fans ein persönliches Verhältnis zu ihr, denn sie sehen vermeintlich persönliche Einblicke in das Leben der TikTokerin. Banale Videos zeigen beispielsweise, wie Bella 14 Sekunden lang genüsslich Sesambagel auf einer roten Kuschelcouch im Musikstudio isst oder wie sie ihren Mops zärtlich auf die schwarze Nase küsst, um ihn dann auf einem Skateboard fahren zu lassen.
Die deutsche TikTokerin Diademlori arbeitet nach eigenen Angaben durchschnittlich 15 Stunden pro Tag und ist an jedem Tag online. Dabei bedient sie vor allem Modetrends auf TikTok und Instagram im Parallelbetrieb. Damit hat sie mehr als 2 Millionen Follower und über 220 Millionen Likes erreicht. Je nach Werbe-Deal verdient sie nach eigenen Angaben fünfstellige Beträge. Einige Influencer mit einer großen Follower-Basis bauen sogar eine eigene Marke auf, unter der sie zum Beispiel T-Shirts, Tassen oder Mützen verkaufen.
Eine wichtige Einnahmequelle für Producer sind virtuelle Geschenke, die Fans mit echtem Geld kaufen. Das günstigste Geschenk ist ein „Panda“ (etwa 10 Cent wert) und das teuerste ein „Drama Queen“-Icon (etwa 80 Euro wert). TikToker können erhaltene virtuelle Geschenke jederzeit, bei TikTok mittels Paypal, in echtes Geld umwandeln. Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Laut AGBs behält sich ByteDance vor, jederzeit die Wechselkurse zu verändern.
TikToker, die mindestens 16 Jahre alt sind und mehr als tausend Follower haben, dürfen live auf Sendung gehen, um Reichweite und Einnahmen zu erhöhen. Wer regelmäßig vor großem Publikum streamt, sollte sicherheitshalber seine Landesmedienanstalt informieren, um Strafen durch fehlende Lizenzen zu vermeiden.
Verdienstmöglichkeiten
Auch TikToker mit weniger Followern, sogenannte Microinfluencer, versuchen über die Plattform ein paar Euro dazuzuverdienen. Mit mehr oder weniger deutlicher Werbung im Video selbst, und zwar für Produkte aller Arten, vielfach Musiktrends und Videoeffekten, hängen sie sich damit an Werbekampagnen großer Konzerne. Ab etwa 10.000 Followern gehen Unternehmen auf TikToker zu und geben ihnen Produkte, die sie für Geld vor der Kamera präsentieren.
Außerdem verdienen Microinfluencer an Provisionen, indem sie auf Sonderangebote verlinken und Gutscheincodes verteilen. Wie stark TikTok mittlerweile die Musikbranche beeinflusst, zeigt der Jahresbericht 2021 des Konzerns: Mehr als 400 Songs auf der Plattform haben über eine Milliarde Aufrufe erzielt. Plattenfirmen bezahlen ausgesuchte Influencer dafür, ihre Tracks in, Videos einzubauen.
TikTok versucht derzeit, eine neue Generation von Kreativen für seine Plattform zu gewinnen. Dafür hat es den TikTok Creator Fund aufgelegt. Um davon zu profitieren, müssen TikToker mindestens 100.000 Videoaufrufe innerhalb der letzten 30 Tage vorweisen können. Qualifizieren sie sich, erhalten sie Geld für die Views ihrer Videos.
Dmitri Steiz, einer der erfolgreichsten Influencer Deutschlands (3,7 Millionen Follower, rund 80 Millionen Likes), verriet in einem Interview mit dem Tech-Portal „BASIC thinking“, dass ByteDance ihm grob einen Euro pro 100.000 Views zahle. Große Sprünge kann man mit dem Geld aus dem Creator Fund also offenbar nicht machen.
Der Algorithmus
Wer einmal anfängt, die Videos auf TikTok durchzuscrollen, kann schwer damit aufhören. Dafür sorgt der sogenannte Für-Dich-Algorithmus. Er stellt den endlosen Strom an Videos zusammen. Gefällt ein Video nicht, wischt man einfach weiter und das nächste Video erscheint. Die Funktionsweise erinnert an Dating-Apps wie Tinder.
2020 gab TikTok erstmals grobe Einblicke, wie der Algorithmus arbeitet: Er zeigt ein neues Video in der „Kaltstart-Phase“ zunächst einer kleinen Zuschauergruppe, die mutmaßlich Gefallen am Inhalt findet. Reagiert die Gruppe positiv, wird es einem größeren Nutzerkreis mit ähnlichen Präferenzen vorgeschlagen. TikTok nennt das Empfehlungsphase. Das wiederholt sich in immer größeren Benutzergruppen, bis das Video womöglich viral geht. Die meisten Videos fallen kurz nach dieser zweiten Phase aus dem Für-Dich-Feed und gewinnen dann kaum noch an Reichweite.
Um zu entscheiden, welche Nutzer ein hochgeladenes Video zu sehen bekommen, analysiert die Plattform es und wertet Metadaten wie die Videobeschreibung, die Sounds, die Hashtags und die Songs aus. Diese Informationen geben dem Algorithmus Hinweise auf das Thema und den Stil. Darüber hinaus sammelt TikTok Informationen über die Nutzer: Geräteinformationen, das Heimatland, Interessen und Videopräferenzen. Je nach App-Einstellungen zapft die App sogar persönliche Daten wie Telefonnummern und Namenslisten ab. Diese Daten haben vermutlich kaum Einfluss auf den Algorithmus, können jedoch wertvoll für Bytedance sein, um neue Nutzer zu werben.
TikTok merkt sich für jedes Video, wie lange und wie oft es ein Nutzer angeschaut hat oder ob er es schnell überspringt. Jeden Like, jeden Kommentar und jeden Follow speichert TikTok im Profil des Nutzers. Danach verfeinern sich die Empfehlungen im Für-Dich-Feed.
Die New York Times hat kürzlich ein internes ByteDance-Dokument erhalten. Danach soll der Für-Dich-Algorithmus möglichst viele Benutzer (Daily Active User, DAU) lange auf der Plattform halten und sie schnell zurückkehren lassen. Das Dokument bestätigt, dass sich bei TikTok Videos mit vielen Likes und Kommentaren sowie großer summierter Abspielzeit positiv auswirken.
Julian McAuley, Professor für Informatik an der University of California San Diego, der das TikTok-Dokument für die New York Times analysierte, sagte hierzu, die Beschreibung sei „völlig vernünftig, aber traditionelles Zeug“. Er sehe keine „algorithmische Magie“.
Der vielleicht größte Unterschied zu anderen sozialen Medien ist offenbar, dass sich TikTok ausschließlich an den Daten des einzelnen Nutzers zu orientieren scheint. Welche Videos seine Freunde gelikt oder kommentiert haben, spielt demnach keine wesentliche Rolle.
Das hat damit zu tun, dass die TikTok-App so viel Information über jeden einzelnen Nutzer sammelt. Die Bedienoberfläche ist durch das Wischprinzip so gestaltet, dass TikTok bei jedem angezeigten Video ein qualifiziertes Feedback erhält: Der Benutzer sieht das Video bis zu Ende an, reagiert sogar darauf – oder wischt es schnell weg. Nun folgt ohne Pause sofort das nächste Kurzvideo, das dem Nutzer weitere Informationen über seine Konsumbedürfnisse entlockt, ganz gleich, was er tut. TikTok lernt seine Nutzer wesentlich schneller kennen als etwa YouTube, durch die Kürze der Videos. Selbst wenn ein Nutzer 25 Videos am Stück wegwischt, lernt TikTok durch seine Negativreaktion immer besser, irrelevante Inhalte auszusortieren. Mit jedem Swipe kommt die App also der optimalen Befriedigung des Nutzers näher.
Mit dieser Praxis führt TikTok seine Nutzer flotter in Filterblasen. Das hat das Wall Street Journal (WSJ) Mitte 2021 mit einem Experiment verdeutlicht: Etwa 100 Bots mit je eigenem TikTok-Account untersuchten die Funktionsweise des Algorithmus im Detail. Die Programmierer brachten jedem Bot bei, durch TikTok-Videos zu scrollen und sich nur bestimmte Videos anzuschauen, sowie Likes und Kommentare dafür zu verteilen.
Welche Videos ein Bot konsumierte, ergab sich anhand der ihm zugewiesenen Interessen, wie etwa „Hunde“, „Politik“ oder „melancholische Inhalte“. Sobald der Bot in einem Video eigene Interessen erkannte, spielte er dieses in voller Länge ab. Dieser Vorgang wiederholte sich über Stunden. Die Forscher fanden heraus, wie der Algorithmus die Videovorschläge nach den Interessen der Bots veränderte. Likes, Shares, Follow-Verhalten sowie der Wohnort spielten nach den Untersuchungen des WSJ für den Für-Dich-Feed nur eine sekundäre Rolle. Wichtiger war, welche Videos die Bots wie oft und wie lange betrachteten.
Filterblasen
Schaute der Bot zum Beispiel Hundevideos an und scrollte bei Politik weiter, bekam er zukünftig häufiger Tiervideos und seltener Politik zu sehen – wie zu erwarten war. Die Interaktion der Bots mit TikTok führte aber noch tiefer in Themennischen hinein. Irgendwann bekamen die Bots nur noch Videos über bestimmte Rassen wie Arabische Greyhounds zu sehen. In diesem Endstadium des Experiments bestanden bis zu 93 Prozent des Feeds aus den Nischenthemen.
Das Experiment zeigte auch, dass bis zu 90 Prozent der Videoaufrufe durch die Empfehlungen des Algorithmus entstehen. Bei YouTube sind es unter 70 Prozent. Ob ein Video bei TikTok Erfolg hat, hängt somit stärker vom Algorithmus ab als beim Konkurrenten. Auch andere Anbieter wie Meta und Twitter stehen mit ihren Plattformen seit Jahren in der Kritik, Nutzer in Filterblasen zu leiten. TikToks Algorithmus scheint in dieser Hinsicht noch weiter zu gehen.
Offenbar will TikTok jedoch mit einem Ende 2021 angekündigten Algorithmus-Update drohender Langeweile bei Nutzern durch Filterblasen entgegenwirken. Der Algorithmus soll zukünftig für vielfältigere Videovorschläge sorgen.
Copycats
Es verwundert nicht, dass der Erfolg von TikTok andere soziale Netzwerke auf den Plan rief. Sie versuchten, TikToks Markenkern zu kopieren, also die Kurzvideos und den vertikalen Video-Feed, durch den sich der Nutzer wischt.
TikTok hat unter anderem Instagram zu seinem Reels Tab, YouTube zu seinen Shorts und Snapchat zu seinem Snapchat Spotlight inspiriert. Letztlich lassen sich eine erfolgreiche Funktion und die Kultur innerhalb einer Plattform aber nicht 1:1 woandershin übertragen.
So wurden die Reels in Instagram in einem eigenen Tab platziert. Bei TikTok dagegen macht der Für-Dich-Feed den Kern der Anwendung aus: Wer die TikTok-App startet, landet sofort darin. Auch Funktionen wie Duets gibt es bei Instagram nicht. Die anderen Anbieter konnten TikToks Erfolg bisher nicht reproduzieren.
TikTok wächst weiter. Aktuell testet ByteDance zusammen mit Shopify einen sogenannten Shopping-Tab. User klicken auf ein Shopping-Icon im Video und kaufen Produkte, die sie gerade gesehen haben, ohne TikTok zu verlassen. Shopping-Events im Livestream befinden sich noch in der Beta-Phase. Ob und wann die Events nach Deutschland kommen, steht bislang noch nicht fest.
Kritik
TikTok steht in der Kritik. Verbraucherschützer kritisieren TikToks Algorithmus scharf: „Der Algorithmus versucht, die Menschen süchtig zu machen, anstatt ihnen das zu geben, was sie wirklich wollen“, sagte Guillaume Chaslot von Algo Transparency, einer Pariser Organisation, die Algorithmen großer Firmen unter die Lupe nimmt.
Besonders hart gehen deutsche Jugendschützer mit den Inhalten auf TikTok ins Gericht. Die Plattform schütze beeinflussbare und leichtsinnige junge Menschen zu wenig, die sich ohne Bedenken freizügig präsentieren. Das wiederum könne für das Selbstbild insbesondere von Mädchen und jungen Frauen schädlich sein, die sich in ihrer Pubertät mit den hübschen und erfolgreichen TikTok-Influencerinnen vergleichen.
Zwei Drittel der jungen TikToker sind weiblich. Wer viel TikTok-Videos schaut, könnte sein Selbstwertgefühl nur noch vom Feedback seiner TikTok-Aktivitäten ableiten. Diese Kritik betrifft auch den Konkurrenten Instagram.
Kritisiert wurde ebenfalls, dass viele sehr junge Nutzer von Pädophilen ohne Barrieren kontaktiert wurden. TikTok reagierte 2020 und setzte das Mindestalter für die Nutzung der App auf 13 Jahre hoch. Erst ab einem Alter von 16 Jahren dürfen Jugendliche Nachrichten versenden und direkt kontaktiert werden. Beide Altersgrenzen werden indes nicht kontrolliert. Für ein besseres Sicherheitsgefühl hat TikTok einen „begleiteten Modus“ eingeführt, mit dem Eltern besser die App-Nutzung ihrer Kinder kontrollieren können.
Kritiker werfen TikTok zudem vor, Reichweite von Videos einzuschränken, die Menschen mit Behinderungen thematisieren oder etwas mit Übergewicht, Homosexualität oder LGBTQ zu tun haben. ByteDance wird dafür kritisiert, Vorurteile zu fördern, die Meinungsfreiheit einzuschränken und legale sexuelle Orientierungen zu zensieren. Davon betroffen sind auch deutsche Video-Blogger, die über ihr Leben berichten wollen. TikTok begründete dies damit, Menschen vor Mobbing schützen zu wollen. Die Reichweite dieser Inhalte wird von TikTok ab circa zehntausend Aufrufen eingeschränkt.
Bei einem chinesischen Unternehmen stellt sich die Frage, inwieweit es mit Behörden seines Landes zusammenarbeitet – etwa bei den Themen Zensur und der Datenweitergabe. Tatsächlich soll der Konzern zahlreiche Videos über Proteste gegen die chinesische Regierung in Hongkong, Tibet oder China gelöscht oder aus dem Für-Dich-Feed entfernt haben.
Derzeit sagt TikTok, es gebe keine Zensur mehr. ByteDance verweist darauf, dass es sich bei TikTok nicht um ein chinesisches Unternehmen handelt. Das internationale Geschäft sei streng getrennt vom chinesischen Markt, der Firmensitz liegt auf den Cayman Islands, die Rechenzentren stehen in den USA. In China heiße die entsprechende App auch nicht TikTok, sondern Douyin. Das Magazin Spiegel zitiert einen Unternehmenssprecher mit der Aussage: „TikTok hat niemals Nutzerdaten an die chinesische Regierung weitergegeben, und wir würden dies auch nicht tun, wenn wir gefragt würden.“
Fazit
Obwohl TikTok erst seit Ende 2017 existiert, gibt sein rasanter Aufstieg den amerikanischen Social-Media-Riesen zu denken. Trotz immenser Kritik zu Datenschutz, Spionage, politischer Zensur, Jugendschutz, Filterblasen sowie Sexismus-Diskussionen beziehungsweise Pädophilievorwürfen wuchs keine andere App 2021 so stark.
Die Videoplattform erobert vor allem junge Nutzer. TikTok gibt ihnen das Gefühl, Teil einer kreativen Spaß- und Mitmach-Community zu sein, die sie berühmt machen kann. Alles, was sie dafür tun müssen, ist Chart-Hits nachzusingen und dabei interessant in die Kamera zu schauen. Wenn sie dazu gut aussehen, tanzen können und unterhaltsame Kommentare machen, funktionieren sie für ByteDance und Werbepartner umso besser.
Trotz fragwürdiger Auswahl der Videotrends bietet TikTok Inhalte für viele Geschmäcker. Fans von Technik, Politik und Raumfahrt können genauso fündig werden wie Auto- oder Musikfans. Dass hier kein inhaltlicher Tiefgang wie bei langen YouTube-Videos erwartet werden kann, liegt in der Natur der Kurzvideos. Es bleibt spannend, wie TikTok den Für-Dich-Algorithmus weiterentwickelt, um den Balanceakt zwischen gewinnbringenden Filterblasen und genügend Abwechslungsreichtum für Nutzer-Retention zu meistern. Trotz aller Kritik: Es war nie so einfach, unterhaltsame Kurzvideos mit Bling-Bling-Effekten zu produzieren, wie mit TikTok. (lgu@ct.de)