Vor kurzem meinte ein Journalisten-Kollege, er wundere sich, dass der ganze Diskurs über potenzielle Risiken der Nanotechnik, pardon "Nanotechnologie", aus Politik und Wirtschaft selbst angestoßen worden sei – und nicht etwa von technikkritischen Organisationen. An diesem Diskurs haben sich die Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt doch eher konstruktiv beteiligt. Joachim Schummer, Philosoph an der TU Darmstadt und zugleich Chemiker, geht nun gegen die versöhnliche Stimmung an: Mit seinem Buch "Nanotechnologie. Spiele mit Grenzen" hat er eine fulminante Streitschrift vorgelegt.
Überraschend ist dabei weniger seine Ausgangsthese, bei der "Nanotechnologie" handele es sich nicht um "eine spezifische Technik oder Forschungsrichtung". Wer genauer hingeschaut hat, wird sie sofort unterschreiben, denn natürlich baut die Nanotechnik auf zahlreichen, disparaten Entdeckungen auf, die oft vor etlichen Jahrzehnten gemacht wurden. Verschleiert wurde dies allerdings recht erfolgreich, indem Richard Feynmans Vortrag "There's plenty of room at the bottom" nachträglich zum Gründungsmythos stilisiert wurde – obwohl Wissenschaftler immer wieder bestätigen, dass sie Anfang der achtziger Jahre niemand mehr auf dem Schirm hatte.
Spannender ist die zweite These, die er gegen Ende des Buches aufstellt: "Hinter der futuristischen Fassade der Nanotechnologie verbirgt sich unter kulturgeschichtlicher Perspektive eine gewaltige Restaurationsbewegung."
Schummer macht dies zunächst an der Entstehungsgeschichte des Begriffes "Nanotechnologie" fest, die er sorgfältig rekonstruiert. Es war eine seltsame Kombination aus neuerer Sciencefiction-Literatur, dem Ende des US-Raumfahrt-Traums mit der Challenger-Katastrophe 1986, ins Stocken geratener Konzepte wie Kryonik und Künstlicher Intelligenz sowie der US-amerikanischen Religiosität, die Mitte der Achtziger zu einem visionären Vakuum geführt hatte. In dieses stieß der Futurist Eric Drexler mit seiner Vorstellung einer Nanotechnologie, die Atome wie Legosteine anordnen wollte und dabei totale Kontrolle über Materie versprach.
Daraus erwuchs die Heilserwartung einer künftigen Gesellschaft, in der die Macht der neuen Technik eine verloren gegangene Orientierung versprach und die Probleme der menschlichen Zivilisation – Krankheit, Alter, knappe Ressourcen, Armut – zu lösen versprach. Derart biblische Versprechen fanden sich schließlich dann in der National Nanotechnology Initiative der USA von 2000 wieder, die etliche Industrie- und Schwellenländer in den folgenden Jahren kopierten.
Was ist daran problematisch? In der mit Hunderten Förder-Millionen geadelten "Nano-Religion" versteckt sich für Schummer eine Absage an die Errungenschaften der Aufklärung, weil die Verfechter einer radikalen Nanotechnologie im Verbund mit den Transhumanisten einen längst überwundenen Technikdeterminismus wieder auferstehen lassen. Für die ist der nanotechnische Weg zum optimierten Menschen und einer Maschinenintelligenz unausweichlich. Diese "Nano-Metaphysik kultiviert gerade wieder das von Kant gegeißelte 'Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen'." Denn wo der Verlauf der technischen Entwicklung auf ein unveränderbares Ziel hinauszulaufen scheint, wie Drexlerianer, Transhumanisten und Singularitätstheoretiker immer wieder versichern, bleibt uns nichts anderes, als sich in das Unvermeidliche (mit dem vor allem Geld verdient werden soll) zu fügen.
Eine demokratische und vor allem vernunftgemäße Prüfung neuer Nanotechnologien erscheint da natürlich anachronistisch. Die aber fordert Schummer zurecht ein.
Zwei Dinge stören mich allerdings: Zum einen expliziert er nicht, was er unter Technik und Technologie versteht (dazu habe ich mich in diesem Blog schon einmal ausgelassen). Zum anderen ist zumindest in Europa von einer Drexler'schen Nano-Heilserwartung wenig zu spüren. Hier dominiert eher das Totschlagargument der Wettbewerbsfähigkeit, die Investionen in Nanotechnologien steigern sollen.
Auch wenn an ihnen nicht alles aufregend neu ist, glaube ich doch, dass in den vergangenen Jahrzehnten ein qualitativer Sprung stattgefunden hat, der die Beschreibung "Nanotechnik" rechtfertigt (im Unterschied zu einer konkreten Nanotechnologie): eine Stufe der Technik, die Objekte des Nanokosmos ganz gezielt nutzt, ja ausreizt in einer Weise, die zuvor oft nur theoretisch vorstellbar war.
Man kann das auch mit der Informationstechnik vergleichen: Natürlich gab es Abakus und Lochkarten schon lange vor dem ersten funktionsfähigen Computer. Aber erst der Halbleiter-Transistor führte zu einer Allgegenwärtigkeit von Rechnern, die heute in jedem Winkel unseres Alltags wirken. Noch Anfang der Neunziger wurde die Bezeichnung "EDV-gestützt" verwendet. Heute ist das selbstverständlich, also erwähnen wir es nicht mehr. Genauso wird in den 2020er Jahren das Präfix "Nano" überflüssig sein - weil irgendeine Verfeinerung im molekularen Maßstab für fast alle Technologien normal geworden ist.
Welche Verfeinerung das sein soll und welche nicht, darüber wird aber zu reden sein. Schummers Verdienst ist es, den zweifelhaften Kern des Nano-Hypes knapp und präzise aufgedröselt zu haben. Das kann die Debatte endlich wegbringen von der Verengung auf toxische Nanopartikel hin zu der Frage, welche Nanotechnik wir wirklich wollen und verantworten können.
Joachim Schummer: Nanotechnologie. Spiele mit Grenzen, Suhrkamp 2009, edition unseld
(Niels Boeing)