Die Vorstellung, dass Kunst aus den Tiefen des schöpferischen Geistes hervorgeht, könnte durch die jüngsten biowissenschaftlichen Vorstöße eine radikale Umkehr erfahren. Bald wird Kunst möglicherweise auf zuinnerste Weise im Menschen implantiert werden.
Die Geisteswissenschaften sehen sich heute schon in einer schwierigen Situation, nicht zuletzt angesichts der modernen Unsterblichkeitsapparaturen, der Medien - der Maschinen gegen den Tod. Mit deren Hilfe leben auch Verstorbene als Stimme, als Bild, als Film, als Datendoppelhelix leichthin weiter. Schon lange hat die Naturwissenschaft die Philosophie als Königin der Wissenschaften abgelöst. Pulloverproduzenten übernehmen die Aufgaben der Moralphilosophie - man erinnere sich an die Fotos von Oliviero Toscani für Benetton. Und auch die alte Königin der Künste, die Literatur, darf sich ihrer Krone nicht mehr sicher sein. Literaturwissenschaftler stehen nun vor der Frage, ob sie ihrem Fachbereich künftig die Biotechnologie hinzufügen sollen oder ob die vormals Germanistik umgekehrt im Begriff ist, ein Appendix der Gentechnik zu werden. Im Raum steht die Möglichkeit, dass künftige Dichter nicht mehr auf Papier oder Bildschirmen schreiben, um ein Maximum an Ausdruckswirkung hervorzubringen, sondern direkt in die Gene.
"Wir gehen vom Lesen unseres genetischen Codes zur Möglichkeit über, ihn zu schreiben", stellt der Biochemiker Craig Venter fest. Was daran interessant ist, ist aber nicht so sehr der molekulartechnologische Fortschritt, den Venters Minimalgenom-Projekt markiert. Es ist vielmehr die Möglichkeit, so direkt und so wirkungsmächtig wie noch nie zuvor eine literarische Botschaft im Menschen platzieren zu können. Fast möchte man meinen, dass es kein Zufall sein kann, wenn zur selben Zeit, zu der diese Meldung verbreitet wird, die weltweit bedeutendste Buchmesse in Frankfurt am Main beginnt.
In den Künsten zeichnen sich auch an anderen Stellen dramatische Veränderungen ab. Einige Bereiche der bildenden Kunst haben bereits Übergänge vollzogen und sich zum Teil unbemerkt aus der Kunst verabschiedet - sie führen nun nicht mehr die Kunsttradition fort, sondern die Tradition des Verdunkelungshandwerks, der Kryptografie. Diese Kunst hat aufgehört mit dem schöpferischen Geheimnis und angefangen, stattdessen Attitüden des Geheimnisvollen zu produzieren. Diese Kunst möchte nicht mehr zu uns sprechen, sie möchte ein Rätsel sein und es bleiben.
Versuche, möglichst ohne Umwege in den Menschen hineinerzählen zu können und eine für den Zuhörer möglichst ausweglose Faszination auszuüben - ihn zu fesseln -, gibt es, seit der Mensch ins Morgenrot der Geschichte getreten ist. Jahrtausendelang war die Schrift ein Machtmittel. Sie wurde gehütet von Schreibern, Klerikern, Adeligen, Geheimwissenschaftlern, und als sie dank Gutenberg hinaus in die Massenhaftigkeit befreit wurde, war sie neuen Versuchungen ausgesetzt - Demagogie, Machiavellismus, Propaganda. Neue Entwicklungen geben uns Technologien in die Hand, die noch vor nicht allzu langer Zeit als Science Fiction belächelt worden wären, die Steuerung eines Mauspfeils mit Gedankenimpulsen beispielsweise; auch diese Ansätze lassen sich invertieren zu paranoiden Vorstellungen, in denen der Mauspfeil mit dem Menschen spielt.
Was sich mit der Arbeit von Venter und seiner Kollegen eröffnet, ist viel radikaler. Es bedeutet, dass es in Zukunft nicht nur Leser und Menschen, die sich mit literarischen Figuren identifizieren, geben wird, sondern auch Geschriebene. Einer erzählt dem anderen dessen Leben - so, dass er dieser Erzählung nie mehr entgehen kann. (Peter Glaser)